Eisiges Feuer (German Edition)
doch nicht, um Elyne zu sehen, wie alle Umstehenden gerührt oder belustigt annahmen. Kirian war hier. Das war das Einzige, woran er im Augenblick noch denken konnte. Kirian war hier. Warum brachte er sich selbst in Lebensgefahr, der Wahnsinnige?
6.
Lautlos erhob sich Lys, prüfte noch einmal, ob Elyne wirklich schlief. Dann warf er sich ein dünnes Gewand über und trat hinaus auf den Balkon. Hier, dreißig Schritt über dem Boden, konnte ihn niemand beobachten, für die Wächter war er unsichtbar.
Aufgewühlt lehnte er sich an die Brüstungsmauer, starrte hinaus in die dunkle Nacht und versuchte, an irgendetwas anderes als die vergangenen Stunden zu denken. Es war unerträglich gewesen … Das Festmahl, das nicht enden wollte, bis sein Gesicht vom unentwegten Lächeln schmerzte und er sich keine schlagfertige Antwort auf all die Scherze und Anzüglichkeiten der zunehmend betrunkenen Gäste mehr ausdenken konnte. Sein Vater, der ihm so leise wie möglich Vorhaltungen machte, empört über die Eigenmächtigkeit, mit der Lys sich Weidenburg erschlichen hatte. Roban und seine Frau, die so verliebt miteinander umgingen – die beiden waren schon seit drei Jahren verheiratet und einander wirklich herzlich zugetan, auch wenn diese Ehe bislang kinderlos geblieben war, worunter vor allem Roban sehr litt; ohne einen männlichen Erben war seine Position geschwächt. Lys’ eigene Frau, die ebenso wie er Verliebtheit heuchelte, ihm aber nur Drohungen und Gemeinheiten ins Ohr flüsterte.
Rasch schob Lys diese Erinnerungen beiseite, denn sie würden unweigerlich im Schlafgemach enden, dem er gerade entflohen war. Also dachte er an Kirian, doch auch das war wenig beruhigend. Hatte er ihn wirklich gesehen? Den ganzen Tag hoffte Lys schon, dass es nur Einbildung gewesen war, ein Wunschtraum vielleicht.
Warum sollte er auch so wahnsinnig sein und sich hier einschleichen, wo alle Wachen in höchster Alarmbereitschaft sind! Wenn irgendjemand dem Hochadel Onurs schaden wollte, heute wäre der richtige Tag, alle hocken auf einem Haufen. Kirian würde nie …
Ruckartig wurde Lys von hinten gepackt. Eine Hand legte sich auf seinen Mund, sodass er nicht schreien konnte, seine Arme wurden gesichert, damit er nicht zuschlug. Panisch kämpfte er gegen den stählernen Griff an, wollte mit den Beinen ausholen – da erkannte er diese Hand und den Duft des Mannes, der ihn festhielt. Sofort gab er jeden Widerstand auf, noch bevor Kirian ihm beschwichtigend zuflüsterte: „Ganz ruhig, dir geschieht nichts.“
Lys drehte sich um, lehnte sich an die Schultern des Mannes, von dem er die letzten Wochen über jede Nacht geträumt hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie schmerzlich diese Wochen gewesen waren. Er hatte die Sehnsucht, die so nutzlos und unerfüllbar war, nicht zulassen wollen.
Eine Weile standen sie nur da, eng umschlungen, und teilten den Augenblick, wissend, dass es ein gestohlener Moment der Zweisamkeit war.
„Warum bist du hier?“, wisperte Lys schließlich und entzog sich der Hand, die seine Wange streichelte.
„Ist es dir unangenehm? Soll ich gehen?“ Das Lachen in Kirians Stimme verriet den Scherz, doch Lys klammerte sich sofort an ihn.
„Nein, bitte, bleib! Ich will nur wissen, warum du solch ein Risiko auf dich nimmst. Auf Corlin, auf Lichterfels, überall anders wäre es weniger gefährlich für dich als ausgerechnet hier, beim König, wenn alle Wachen und Leibgarden Onurs durch die Nacht streifen.“
„Ich musste kommen. Ich musste die Hochzeit mit eigenen Augen verfolgen. Hier geblieben bin ich, weil ich dachte, du könntest heute Nacht vielleicht einen Freund gebrauchen.“ Kirian zog ihn auf den Boden nieder, zurück in eine feste Umarmung. Ihm war nicht entgangen, dass Lys in seinem dünnen Überwurf fror, und wie verloren er dagestanden hatte, als er sich noch allein glaubte. Kirian hatte die ganze bisherige Nacht hier draußen verbracht, es war ein gutes Versteck vor den Wachen. Das wenige, was aus dem Schlafgemach zu hören gewesen war, hatte ihn bestärkt, noch länger auszuharren, in der Hoffnung, dass Lys hierher kommen würde.
„Wie schlimm war es?“, flüsterte er und versuchte, dem zitternden jungen Mann all seine Wärme und Kraft zu schenken.
„Sie hasst mich. Die Götter mögen wissen, warum, Elyne hasst mich“, erwiderte Lys tonlos. „Bei der ersten Begegnung war es nur Verachtung gewesen, sie hatte Gerüchte darüber gehört, dass ich ein weichlicher Feigling sei, vollkommen
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