Eisiges Feuer (German Edition)
für Angriffe machte.
So schnell wie möglich kletterte Lys die verkohlten Überreste des Wachturms hinauf. Da das Mauerwerk noch standhielt, konnte er so höher gelangen und einen besseren Blick auf die Außenseite erhaschen als durch die Schießscharten im Wehrgang.
Dutzende Schatten bewegten sich diesseits wie jenseits des Burggrabens. Einer trat kurz ins volle Mondlicht, Lys fixierte ihn und fluchte innerlich. Der Mann trug ein rotes Tuch um den Arm. Das waren Söldner, keinem Landesherren untertan. Wer auch immer Weidenburg angreifen ließ, wollte sich nicht zu erkennen geben.
Er zögerte nicht länger, legte einen Pfeil ein und zielte auf die große Alarmglocke. Allein konnte er hier draußen allenfalls sterben, er brauchte Verstärkung!
Die Glocke war nur fünfzehn Schritt entfernt, sie hing neben dem Tor zum Innenhof. Allerdings könnte sein Pfeil allenfalls ein leises „Pling“ erzeugen, auf das niemand reagieren würde. Lys musste das Tau durchtrennen, mit dem die Glocke aufgehangen war. Schon bei Tageslicht ein schwieriges Unterfangen …
Es muss gelingen!
Er ließ alle Gedanken fallen, verdrängte Gefahr, Dunkelheit und Angst, wurde eins mit dem Tau wie mit dem Pfeil und schoss. Treffer! Die Glocke kippte laut klirrend zur Seite, doch noch hielt das Seil. Ob das gereicht haben mochte, jemanden zu alarmieren?
„Da oben!“, rief jemand. Armbrustbolzen und Pfeile flogen um Lys’ Kopf. Hastig schoss er zurück, ohne zu überlegen. Ein Söldner schrie auf, stürzte in den Burggraben. Es durchfuhr Lys wie ein Blitz: Er hatte getötet. Zum ersten Mal hatte er einem Menschen das Leben geraubt. Wie betäubt zielte und schoss er weiter, Pfeil um Pfeil, duckte sich unter dem Geschosshagel, der auf ihn niederging.
Runter vom Turm!, dachte er, ohne irgendetwas zu empfinden. Stattdessen drehte er sich um, feuerte einen weiteren Pfeil auf die Glocke ab. Ein heller, weit hallender Ton erklang, und zugleich wurden Schreie und hastige Fußtritte laut – seine Verstärkung kam. Ein Brandpfeil flog auf Lys zu. Aufschreiend ließ er den Bogen fallen und sprang hinab, bekam gerade noch einen verkohlten Balken zu fassen, sonst wäre er zehn Schritt tief abgestürzt. So schnell er konnte, hangelte er sich abwärts auf den Wehrgang.
„Wo sind die Verräter von der Königsgarde?“, fauchte er, als seine Soldaten – viele nur halb angekleidet und schlaftrunken – zu ihm kamen und endlich begannen, den Angreifern ernst zu nehmenden Widerstand entgegenzusetzen.
„Vergiftet, Herr!“ Tomar starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Sie liegen allesamt in der Wachstube, betäubt und bewegungsunfähig. Jemand muss ihnen etwas ins Essen getan haben!“
„Aber warum dann nur die Männer des Königs, warum nicht alle Soldaten?“
Lys blickte zur Turmruine auf. Er hatte ein klares Ziel geboten, die Söldner hätten ihn einfach so erschießen können. Die Pfeile waren ihm nah gekommen, ja. Getroffen hatte kein einziger. Zufall? Glück? Unfähige Angreifer?
„Sie fliehen! Sie fliehen, die feigen Hunde!“, jubelten die Männer um ihn herum.
Ablenkung. Das ist ein Ablenkungsmanöver! Und wer immer dahinter steckt, er hat befohlen, dass ich zu überleben habe!
„Zehn Mann zu mir!“, brüllte er unvermittelt, und raste in fliegender Hast zurück in die Hauptburg. Aus den Augenwinkeln nahm er noch wahr, dass seine gesamte Lichterfelser Eskorte ihm folgte. Offenbar hatte er zumindest ihre Treue gewinnen können.
Die Burg war in Aufruhr, Diener, Knechte und feindliche Söldner wimmelten in allen Gängen. Lys zog sein Schwert und stürzte sich mitten in das Getümmel. Ein muskelbepackter Hüne sprang ihm in den Weg, schlug mit einer Axt nach ihm. Lys rammte ihm brüllend die Klinge in die Brust, ging zusammen mit seinem Gegner zu Boden. Aber schon rappelte er sich wieder auf, zerrte das Schwert aus dem sterbenden Körper und rannte weiter. Wenn er selbst nicht das Ziel war, blieben nicht allzu viele Möglichkeiten!
Er hörte Frauen kreischen und weinen, als er Elynes Gemächer erreichte. Einen Augenblick lang zögerte er, wohin er sich wenden sollte – seine Frau oder sein Kind?
„Ihr, dort hinein!“, befahl er fahrig; dann trug ihn der Instinkt in den kleineren Schlafraum. Vier Männer versuchten, Anniz in die Enge zu treiben, ohne sie zu verletzen – sie hielt das schrill schreiende Kind an sich gedrückt, mühte sich ohne Hoffnung, den Angreifern zu entkommen. Lys hieb auf einen der Söldner ein, alle
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