Eisiges Herz
dreizehn ist.«
Auf den späteren Bildern waren keine Tränen mehr zu sehen. Meist war das Gesicht des Mädchens so ausdruckslos wie bei einem Schaf, das gerade geschoren wird. Vielleicht schaltete sie innerlich ab, versuchte, im Kopf Rechenaufgaben zu lösen, sich an die Namen von Flüssen zu erinnern, an irgendetwas zu denken, was sie von dem ablenkte, was dieser Mann – zweifellos ihr Vater oder Stiefvater – ihr antat und nie wieder würde gutmachen können.
»Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist«, sagte Delorme, »aber für mich war mein erster Kuss einer der schönsten Augenblicke in meinem Leben. Donny Leroux. Wir waren so jung, nicht mal Teenager. Ich glaube, ich war zwölf, vielleicht auch erst elf, und er war im selben Alter. Wir waren im Gästehaus seiner Familie. Die Leroux’ wohnten in Trout Lake auf der Water Road, und sie hatten ein winziges Gästehaus am Ufer. Eigentlich war es nur eine kleine Hütte mit zwei Etagenbetten.
Ich war mit meiner Freundin Michelle Godin da, wer der andere Junge war, weiß ich gar nicht mehr. Irgendwann hat jemand eine Flasche geholt, und wir haben angefangen, Flaschendrehen zu spielen. Ich hatte schon mal davon gehört, aber ich hatte es noch nie gespielt. Und das Komische war, ich hatte mir noch nie vorgestellt, wie es sein würde, geküsst zu werden, nicht so richtig, meine ich. Es war nichts, wonach ich mich sehnte oder worüber ich mir den Kopf zerbrochen hätte. Wahrscheinlich war ich erst elf, denn später habe ich viel darüber nachgedacht.
Jedenfalls hat Donny mich dann geküsst. Mit geschlossenen Lippen und nur eine Sekunde lang, aber ich werde es nie vergessen. Das ist jetzt ungefähr fünfundzwanzig Jahre her, und ich erinnere mich noch genau, wie es sich angefühlt hat. Es war, als würde mein ganzer Körper elektrisiert bis in die Zehen und Fingerspitzen. Als würde ich gekitzelt, nur von innen, irgendwie.«
»Klingt wie echte Liebe«, sagte Cardinal.
»O nein. Ich hab nachher ganz oft daran gedacht, aber mehr wollte ich nicht mit Donny zu tun haben. Ich hatte noch keine Vorstellung davon, mit einem Jungen zu gehen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich daran interessiert gewesen wäre, Donny besser kennenzulernen oder mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Es war, wie wenn man zum erstenMal das Nordlicht sieht. Man erinnert sich daran, man vergisst es nie wieder, aber man richtet sein Leben nicht nach dem Erlebnis aus.«
»Vielleicht hat der Junge ja etwas ganz anderes empfunden.«
Delorme zuckte die Achseln. »Wer weiß, ob es für ihn auch das erste Mal war? Aber was ich sagen wollte, war, dass unser geheimnisvolles Mädchen diese Erfahrung niemals machen wird. Der Mann auf den Fotos hat sie darum betrogen. Wenn sie zum ersten Mal einen Jungen in ihrem Alter küsst, wird es etwas ganz anderes für sie sein.«
Und das ist wahrscheinlich noch das geringste Problem, dachte Cardinal, während er die restlichen Aufnahmen durchging.
»Die Kollegen aus Toronto haben gute Arbeit geleistet.« Delorme zeigte auf eins der Fotos, das, wie die einfache Symmetrie des Betts mit den beiden Nachtschränkchen nahelegte, in einem Hotelzimmer aufgenommen worden war. »Sie haben rausgefunden, dass diese Aufnahme in dem Motel Traveller’s Rest gemacht wurde, das unmittelbar nördlich von Toronto liegt.«
»Das kenn ich nicht«, sagte Cardinal.
»Ich auch nicht. Aber wer kleine Kinder hat, wird es kennen. Es ist das dem Freizeitpark WonderWorld am nächsten gelegene preiswerte Motel.«
»Wie reizend«, sagte Cardinal. »Er macht mit ihr einen tollen Ausflug, und dann missbraucht er sie. Und wie haben die Kollegen die Verbindung zu Algonquin Bay hergestellt? Über das Flugzeug?«
»Ja. Ich habe mit dem Besitzer des Flugzeugs gesprochen, einem Mann namens Frank Rowley. Kommt mir nicht vor wie unser Kinderschänder. Erstens hat er eine Glatze. Er ist verheiratet und hat eine Tochter, und er ist nicht nur Hobbyflieger,sondern auch Hobbygitarrist. Er hat mir eine Menge über die Leute am Jachthafen erzählt, aber er hat dort noch nie was Verdächtiges beobachtet.«
Die Tür ging auf, und Mary Flower erschien mit einem wattierten Umschlag.
»Sie wollten unverzüglich informiert werden, falls etwas für Sie abgegeben wird?«, sagte sie zu Cardinal. »Das ist soeben eingetroffen.«
»Noch mehr Material aus Toronto«, sagte Delorme. »Die Jungs arbeiten hart an diesem Fall. Die würden was darum geben, wenn es uns gelänge, den Kerl zu schnappen.«
Delorme
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