Eisiges Herz
dir heimzahlen.
»Wo treibt Connor sich in letzter Zeit rum?«, fragte Cardinal. »Ich brauche Adressen.«
»Scheiße, Connor geht in letzter Zeit nirgendwohin, das ist ja das Komische. Der sitzt Tag und Nacht vor der Glotze und kuckt Fußball, sonst nichts. Ich brauch ein Bier. Sie wollen wahrscheinlich keins.«
»Nein, danke.«
Sie ging zum Kühlschrank, nahm eine Dose Molson Canadian heraus, riss sie auf und trank sie in einem Zug fast leer. Als sie sich wieder aufs Bett setzen wollte, stieß sie einen Beistelltisch um, so dass das Telefon krachend auf dem Boden landete. Einen Moment lang betrachtete sie es mit zusammengekniffenen Augen, als versuchte sie, sich an seinen Namen zu erinnern.
»Mir fällt grade was ein«, sagte sie schließlich. »Gestern Abend hatte ich ein merkwürdiges Telefongespräch.«
»Mit wem?«
»Gott, weiß ich doch nicht. Kannte den Typ nicht. Er meinte, er ist ein Freund von Russell McQuaig, einem Saufkumpan von Connor, und Russell hätte ihm gesagt, er soll hier anrufen. Russell und Connor fahren manchmal zusammennach Toronto runter. Ein bisschen Großstadtluft schnuppern. Mir kann Toronto gestohlen bleiben. Zu dreckig. Jedenfalls sagte der Typ, Connor würde nicht mehr wiederkommen.«
»Was meinen Sie damit, nicht mehr wiederkommen? Connor ist nach Toronto gefahren, und dann ruft Sie ein Fremder an und sagt Ihnen, er kommt nicht mehr wieder?«
»Ja, sieht so aus. So was in der Art.« Sie kratzte sich den verlausten Kopf. »Wenn ich’s mir recht überleg, hat er sogar gesagt, Connor wär tot. Ja, genau.«
»Das scheint Ihnen ja nicht sehr viel auszumachen.«
»Na ja, ich kannte den Typ doch überhaupt nicht. Warum sollte ich ihm glauben? Und zweitens, wenn Connor tot wär, müsste die Polizei mir doch Bescheid sagen, oder? Oder einer vom Krankenhaus. Die würden doch seine Angehörigen benachrichtigen.«
»Eine ›Fickbraut‹ wird normalerweise nicht als Angehörige betrachtet«, sagte Cardinal. »Man würde zuerst seine Verwandten benachrichtigen, oder sogar seine Exfrau, ehe sie sich bei Ihnen melden. Eine Krankenhausverwaltung würde nicht mal von Ihrer Existenz wissen.«
»Also, keine Ahnung.« Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, als handelte es sich um Nebel. »Glauben Sie, Connor ist tot?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Cardinal. »Aber das dürfte sich leicht feststellen lassen.«
»Scheiße, hoffentlich ist er nicht tot«, sagte die Frau. Sie legte den Kopf in den Nacken, trank die Bierdose aus, zerdrückte sie und versuchte, einen Rülpser zu unterdrücken. »Wenn ich schon wieder umziehen müsste, das würd ich nicht durchstehen.«
15
S ergeant Mary Flower setzte sich auf Delormes Schreibtisch. Das tat sie immer, wenn sie wollte, dass jemand alles fallen ließ und ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Nervig, aber effektiv.
Delorme telefonierte gerade mit der Sekretärin des Gerichtsmediziners und erkundigte sich nach dem Verbleib seines Berichts in einem Mordfall, der in zwei Wochen vor Gericht verhandelt werden sollte. Sie legte eine Hand über die Sprechmuschel und sah Flower fragend an.
»Eine Mrs. Dorn ist draußen, und sie ist fuchsteufelswild«, sagte Flower. »Sie will Sie sprechen, warum weiß ich nicht.«
»Ich kenne ihre Tochter.«
»Gut. Die ist auch hier. Schönes T-Shirt, übrigens. Ist das von Gap?«
»Benetton. Sagen Sie ihnen, ich komme gleich.«
Delorme traf die beiden Frauen im Warteraum an. Eine Frau von Mitte fünfzig stand unter der Uhr, die Arme vor der Brust verschränkt, und klopfte mit einem Fuß auf den Boden, als zählte sie die Sekunden, in denen die Gerechtigkeit auf sich warten ließ. Ihre Tochter Shelly saß hinter ihr auf einem Stuhl. Shelly war eine lustige, rothaarige junge Frau, die Delorme aus dem Fitnessstudio kannte. Sie gingen häufig nebeneinander auf den Stepper und plauderten beim Trainieren, um sich die Zeit zu vertreiben. Delorme mochte sie, aber Shelly war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, und es war das erste Mal, dass sie sich außerhalb des Fitnessstudios begegneten. Shelly stand auf, als Delorme erschien.
»Hallo, Lise. Ich weiß, wir hätten uns anmelden sollen.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Delorme. »Das mit deinem Bruder tut mir schrecklich leid. Er war noch so jung.«
»Ja, er war jung«, sagte die Mutter, und in ihrer Stimme lag tiefer Schmerz, der sich als Wut äußerte. »Er war noch fast ein Junge. Er war Student, und er war äußerst begabt. Die
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