Eisiges Herz
irgend so ein Verrückter auf ihn losgegangen ist.«
»Frederick Bell?« Delorme war Dr. Bell nie begegnet, doch sie wusste, dass er Psychiater war.
»Genau. Ein Engländer. Aber das war nicht auf einem der Bootsstege, sondern vor dem Fischrestaurant.«
»Worum ging es denn bei dem Streit?«
»Keine Ahnung. Der Typ hat Bell angeschrien, weil der sein Kind falsch behandelt hatte oder so ähnlich. Ich halte ja nichts von diesen Seelenklempnern. Jedenfalls war der Typ fuchsteufelswild und hatte Bell am Kragen gepackt. Da bin ich halt dazwischengegangen und hab dem Typen gesagt, er soll sich verziehen. Aber das als Körperverletzung zu bezeichnen, wäre wohl übertrieben. Das war so vor einem oder anderthalb Jahren.«
»Können Sie mir sagen, wie der Mann heißt?«
»Ich kann mich nicht genau erinnern – Whiteside oder so ähnlich.«
»Eine letzte Frage, Mr. Morton. Haben Sie am Hafen mal irgendetwas gesehen oder gehört, das Sie beunruhigt hat? Vielleicht etwas, das Sie denken ließ, dass der Hafen kein guter Ort für Ihre Kinder wäre?«
»Wie meinen Sie das? Aus Gründen der Sicherheit?«
»Aus irgendeinem Grund.«
Morton schüttelte den Kopf. »Der Jachthafen ist wie eine Reihenhaussiedlung, wo jeder auf die Kinder des anderen aufpasst. Wo man sich gegenseitig mit einer Tasse Zucker aushilft und so, wissen Sie? Auch wenn man sich nicht besonders gut kennt, haben wir alle ein Gefühl von Kameradschaft, von gegenseitigem Vertrauen, wie man es nicht oft findet. Es ist der perfekte Zufluchtsort – für jeden, und ganz besonders für Kinder.«
22
C ardinal saß am Esstisch und ging Rechnungen durch, während Kelly sich im Wohnzimmer eine Wiederholung von
Emergency Room
ansah. Genau wie Catherine hatte sie die Angewohnheit, beim Fernsehen Popcorn aus einer Schale auf ihrem Schoß zu knabbern und zwischendurch das Geschehen auf dem Bildschirm zu kommentieren mit Bemerkungen wie: »Also wirklich, kein vernünftiger Arzt würde so was tun.«
Cardinal hatte Schecks ausgeschrieben, um Catherines Kreditkartenrechnungen zu bezahlen, und versah jedes Anschreiben mit der Notiz: »Adressatin verstorben, Konto bitte auflösen.«
Seine Gedanken wanderten zu den beiden Personen, die er bisher ausfindig gemacht hatte: einer war schon tot gewesen, als Catherine umgebracht wurde, der andere noch nicht vom Verdacht ausgeschlossen. Er musste Codwalladers Alibi noch überprüfen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es wahrscheinlich wasserdicht war. Cardinal spürte, dass ihm irgendetwas Offensichtliches entging, dass er sich auf dem Holzweg befand. Bisher hatte er sich auf Motiv und Gelegenheit konzentriert: Wer hatte einen Grund, ihm Schaden zuzufügen, indem er seine Frau tötete? Wer war kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden?
Aber es gab noch andere grundlegende Dinge zu klären: Wer kannte seine Adresse? Wer wusste, dass Catherine seine Frau war? Wer konnte derartige Informationen so gezielt einsetzen? Jedenfalls kein Säufer wie Connor Plaskett (selbst wenn er noch gelebt hätte) und vielleicht auch kein egozentrischer Verlierer wie Codwallader.
Cardinals Adresse und Telefonnummer standen nicht im Telefonbuch, und auf dem Revier konnte man sie auch nicht erfragen.
Seit seiner Zeit beim Drogendezernat in Toronto hatte er sich angewöhnt, stets darauf zu achten, ob ihn jemand beobachtete oder ob ihm jemand folgte. Einem Polizisten, der nicht äußerst wachsam war, konnte es passieren, dass irgendein Krimineller ihm zu seinem Haus oder seiner Wohnung folgte und seiner Familie etwas zuleide tat. Wenn jemand ihn verfolgt hätte, würde Cardinal es wissen.
Er überflog die restlichen Rechnungen. Ein Großteil waren Beitragsrechnungen und Spendenaufrufe: von der Audubon Society, dem Sierra Club und von Amnesty International (für Catherine), vom Kinderkrankenhaus und von UNICEF (für Cardinal). Und es gab Rechnungen von Algonquin Bay Hydro, von den Wasserwerken, der Telefongesellschaft und von Desmonds Bestattungsinstitut.
Die meisten Umschläge waren bereits geöffnet und ein Teil der Rechnungen bereits bezahlt. Cardinal setzte seine Lesebrille auf und hielt jedes einzelne Schreiben unter die Lampe neben dem Telefon, um es genau zu überprüfen, doch keins wies denselben Druckerfehler auf wie die gehässigen Beileidskarten.
Also gut, das war vielleicht zu simpel. Bei den meisten Rechnungen handelte es sich sowieso um computererstellte Schreiben. Kein Mensch würde sie überhaupt zu sehen bekommen, ehe sie
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