Eiskalt Ist Die Zaertlichkeit
explodierte sie. Über die Schulter hinweg warf er ihr einen, wie er hoffte, ausgesprochen herablassenden Blick zu. Diese Idiotin. Er konnte nur hoffen, niemals das Pech zu haben, sich ihr in ihrer Eigenschaft als Krankenschwester ausliefern zu müssen. Womöglich würde sie einen Beinknochen am seinem Kopf anwachsen lassen.
Sie rannte ihm nach, geriet auf dem roten, vom Regen aufgeweichten Matsch ins Rutschen. »Warten Sie! Halt! Geben Sie mir mein Kind!
Bitte!«
Das Letzte war kaum mehr als ein Schluchzer, als hätte sie endlich begriffen, was geschah.
Winters setzte seinen Weg über die Brücke fort. Etwa drei Meter vom Geländer entfernt blieb er stehen. Der Wasserstand war heute noch höher. Umso besser. Er legte das inzwischen plärrende Baby in den anderen Arm. Niedlicher Kleiner. Acht Monate alt und für den Frühling angezogen. Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. Schwimmkleidung trug er jedenfalls nicht.
Sie weinte jetzt und streckte die Arme nach ihrem Kind aus. Er drückte das Baby fester an sich und stieß sie zurück, ein kleines bisschen heftiger als nötig. Er lehnte sich an das Brückengeländer. Es war keine große Brücke, nur eine ganz gewöhnliche, im gleichen Stil erbaut wie die Eisenbahnüberführung, die etwa hundertfünfzig Meter flussaufwärts den Fluss überspannte.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Ihre Augen waren geweitet vor Angst, und sie zitterte. Schön.
»Susan Crenshaw.« Das war keine Frage.
»Ja. Was … Wer sind Sie?«
Der erste Ansatz ihrer Frage kam der Wahrheit im Grunde näher. Was war er? Hoffentlich die Verkörperung ihres schlimmsten Albtraums.
Diese Frau war schuld daran, dass er sieben Jahre Leben mit seinem Sohn verloren hatte. Der Hass loderte nicht mehr. Er war jetzt kalt wie Stein.
»Sie haben vor neun Jahren als Volontärin am Asheville General Hospital gearbeitet, zusammen mit einer älteren Krankenschwester.«
Sie nickte verständnislos. Idiotin. Erkannte ihn immer noch nicht. »Nancy Desmond. Ja, damals im Sommer habe ich volontiert. Bitte, geben Sie mir mein Kind. Ich gebe Ihnen, was Sie wollen.«
Er blickte sie spöttisch an. »Bitte, vergessen Sie dieses Angebot nicht, Miss Crenshaw.« Sie hatte ihren Mädchennamen behalten. Es machte ihn wütend, wenn Frauen darauf bestanden. Der Kerl musste herhalten, wenn es darum ging, zu heiraten und sich für den Rest seines Lebens Fesseln anlegen zu lassen, aber sein Name war ihr nicht gut genug. Immer wollten sie alles auf einmal haben, diese Feministinnen. Zum Kotzen.
»Wollen Sie Geld? Ich hole meine Brieftasche. Aber bitte … tun Sie meinem Baby nichts. Bitte.«
»Ich will kein Geld. Ich will Informationen. Mary Grace Winters. Erinnern Sie sich?«
Er sah, wie ihre Augen glasig wurden. »Nein, ich erinnere mich nicht. Bitte …«
»Versuchen Sie, sich zu erinnern. Sie war die Frau eines Polizeibeamten aus Asheville. Sie war eine Treppe hinuntergestürzt und wurde im Asheville General Hospital behandelt.« Er beobachtete sie ganz genau, erkannte den Augenblick, als sie sich an Mary Grace erinnerte. Sah den Moment, als sie ihn erkannte. Ein Hochgefühl ergriff ihn. Sie war außer sich vor Angst. Sein Puls beschleunigte sich rasch, und Adrenalin rauschte durch seine Adern.
»Oh mein Gott«, flüsterte sie. »Sie … Oh Gott. Bitte, bitte, geben Sie mir mein Kind. Er ist doch noch ein Baby. Was wollen Sie von mir?« Nun klang sie bereits erbärmlich. Großer Fortschritt.
»Schwester Desmond. Sie waren Ihre Assistentin.«
Sie streckte die Arme nach dem Baby aus, und Winters lächelte mit schmalen Lippen.
»Miss Crenshaw, das Wasser steht heute ziemlich hoch. Es wäre doch schade, wenn Ihr Kind … hineinfallen würde.« Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Wie ich sehe, haben Sie mich jetzt verstanden. Schwester Desmond. Sie waren ihre Assistentin.«
»Ja. Ich war erst achtzehn. Ich weiß nicht, was Sie wollen.«
»Worin bestand vor neun Jahren Ihre Arbeit, Miss Crenshaw?«
»Ich …« Ihre Hände bewegten sich unruhig, zitterten, griffen Halt suchend nach dem Brückengeländer.
»Sie waren immer mit Schwester Desmond zusammen. Immerzu. Sie haben gehört, was sie mit den Patienten redete. Sie haben zugehört. Sie waren dort, um zu lernen. Ich will wissen, was Sie gelernt haben. Sie haben sich auch mit den Patienten angefreundet. Besonders mit meiner Frau. Sie haben ihr eine Skulptur geschenkt.«
»Ja …«, flüsterte Susan Crenshaw. »Ich erinnere mich.«
»Gut.
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