Eiskalt Wie Die Suende
zweifelhaft aussah, hatte sich zunächst auch nicht finden wollen. Doch dann hatte Nell eine alte Schiffstruhe entdeckt, die der aufmüpfigen Mary Agnes Dolan gehörte, dem rothaarigen Zimmermädchen, das Nell noch nie sonderlich gemocht hatte. Darin fand sie drei enge, tief ausgeschnittene Mieder, einen blauen Rock mit modischer Turnüre, der mit unzähligen Rüschen, Schleifchen und Bändern aufgeputzt war, sowie einen pompösen kleinen Hut mit Federschweifen und ein Paar schwarze Spitzenhandschuhe, die die Finger frei lieÃen.
Nell entschied sich für ein Mieder aus smaragdgrünem Satin, das so eng tailliert war, dass sie ihr Korsett bis zum nahen Erstickungstod schnüren musste, um überhaupt hineinzupassen. Das Dekolleté war skandalös. Sie erbleichte, als sie an sich hinabsah und auf ihre unziemlich zur Schau gestellten Brüste blickte. Doch genau darum ging es ja, redete sie sich gut zu, und so stürzte sie sich mit neuem Eifer in ihre Rolle, färbte sich Lippen und Wangen rot, drehte ihr Haar zu einem lockeren Chignon auf, aus dem sie einige Strähnen ins Gesicht und den Nacken hinabhängen lieÃ. Dazu die Spitzenhandschuhe, ein Retikül â gleichfalls aus schwarzer Spitze â, das gefiederte Hütchen und ein paar von Mary Agnesâ unzähligen Glasperlenketten.
Als sie vor dem groÃen Spiegel in der Eingangshalle der Hewitts stand, musste sie lächeln und dachte: Wenn der heilige Augustus mich jetzt so sehen könnte ⦠Das Lächeln verging ihr jedoch schnell, als sie Will durch die Hintertür hereinkommen hörte. Er war gerade kurz bei sich zu Hause gewesen, um ein paar Dinge zu holen. Geschwind griff sie sich eines von Violas Schultertüchern von der Garderobe und hüllte sich hastig darin ein. Hätte sie doch nur daran gedacht, sich wenigstens ein Spitzenfichu in das freizügige Dekolleté zu stecken! Das hätte natürlich den gewünschten Effekt zunichtegemacht, aber zumindest hätte sie Will erhobenen Hauptes entgegensehen können.
Als er sich ihr nun in der fahrenden Droschke zuwandte â auch er war dem Anlass entsprechend in eine schlichte Leinenjacke gekleidet und trug eine Tweedkappe â, meinte er: âIch kann mir nicht vorstellen, dass du es übertrieben hast. Dir mag es vielleicht so vorkommen, da du mittlerweile so unübertrefflich respektabel bist, aber es soll Frauen geben, denen es gar nie vergönnt ist, wirklich vulgär auszusehen â ganz gleich, was sie anhaben. Und du bist eine von ihnen, also kein Grund zur Beunruhigung.â Er streifte ihr den Schal von den Schultern. âSchlieÃlich willst du heute Abend wie ein leibhaftiges Flittchen aussehen und nicht wie eine Gouâ¦â Ungläubig blinzelnd sah er auf sie hinab. âGouvernante.â
âSiehst duâ, sagte sie und zog den Schal wieder um sich.
Er streifte ihn ihr wieder ab. âNell, jetzt sei nicht albern. Es ist wirklich viel zu warm, um â¦â
âAber ich sehe aus wie ⦠wie â¦â
âDu siehst wunderbar ausâ, sagte er leise.
âDen ganzen Abend werden furchtbare Flegel mich anstarrenâ, beschwerte sie sich. âUnd es ist ja kein Wunder, so wie ich â¦â Vielsagend sah sie auf ihr Dekolleté hinab.
âDie Männer, die im Nabbyâs verkehren, dürften den Anblick spärlich bekleideter Frauen gewohnt seinâ, beruhigte Will sie. âNiemand wird dich anstarren.â
âAber ⦠es ist schon eine Weile her, dass ich mit solchen Leuten Umgang hatte. Ich habe fast völlig vergessen, wie sie sind, wie diese Welt ist. Es ist so â¦â
âIch weiÃ.â Will schloss seine Hand um die ihre, zog sie aber sogleich wieder zurück, als hätte er sich eine Indiskretion zuschulden kommen lassen. âDu kehrst ja aber keineswegs in diese Welt zurück, sondern wirst nur eine Rolle spielen â Colin Cook zuliebe.â
âUnd für seine Frau. Sie tut mir so leid. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was sie gerade durchmacht.â
âDir ist schon bewusst, dass sie uns etwas verschwiegen hat?â, fragte Will.
Nell seufzte nur.
âWie ausweichend sie reagiert hat, als wir wissen wollten, wie sie sich kennengelernt hattenâ, fuhr er fort.
âIch weiÃ.â
âUnd dieser mysteriöse Gefallen, den er ihr getan hatte und für den sie sich bei ihm in ihrem Brief bedanken
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