Eiskalte Angst
liegen.
Licitus, der so grausam gewirkt hatte.
Und nun seinen Meister verriet!
Sofort scharrten sich einige Jünger um ihn. Schaudernd quälte April sich aus ihrer Starre, drehte sich weg, und als sie das krächzende Würgen von Licitus hörte und aus den Augenwinkeln seine wild zuckenden Beine sah, begriff sie, dass man ihn tötete, denn er hatte seinen Meister verraten.
Wo war Marco?
Alles um sie herum geriet in Bewegung. Die Wände der Eishalle verzogen sich und Eisplatten, die viele Meter im Quadrat maßen, lösten sich mit grauenhaftem Krachen, Knistern und Poltern. Die Jünger und Oberen heulten, jammerten, huschten durcheinander, stürzten weinend und rappelten sich wieder hoch.
Ein Tumult war losgebrochen, der von einem Grollen übertönt wurde, wie April es noch nie gehört hatte, ein markerschütternder Ton, der sich zu einem Dröhnen steigerte, erst entfernt, dann immer näher kommend, wie eine gigantische Dampflokomotive, ein schnaufendes und pumpendes stählernes Ungetüm, das die Hölle ausgespuckt hatte.
»Wir müssen hier raus!«, rief Marco, der neben April gesprungen war und sie rau am dünnen Stoff des Kleides mit sich zog. »Anscheinend haben die Schwingungen den Berg durchdrungen und den Schnee des Hanges gelöst. Was da draußen so fürchterlich grollt, ist eine Lawine, die gleich abgeht!«
»Eine Lawine?«, antwortete April und kam sich vor wie eine Närrin. Selbstverständlich hatte es sich nicht um eine Dampflokomotive gehandelt.
»Marco – wie viel Zeit haben wir noch?«
»Vielleicht zwei oder drei Minuten!«
Um sie herum stoben die Jünger davon und ließen die Licitus’ Leiche zurück. Eisbrocken krachten von oben und ein armbreiter Spalt zuckte durch das Eis, der sich vom Eingang der Höhle, die Wände hoch, über die Decke bis zum Ende der Höhle fortpflanzte wie ein dreidimensionaler Blitz.
Sofort spülte Wasser aus Öffnungen und löschte einige der Fackeln.
»IHR BLEIBT HIER! IHR BLEIBT ALLE BEI MIR!«, kreischte Dragus, rannte hin und her und wedelte mit den Armen wie ein hässlicher verzweifelter Gnom.
Sofort hielten Jünger und Obere inne, schlichen wie geprügelte Hunde zu ihrem Herrn und gruppierten sich um ihn.
»Ihr flüchtet? Ihr denkt, eine Lawine kann uns etwas anhaben? Oh nein! Der wahre Feind steht dort. Diese beiden Menschen sind es, die uns vernichten wollen! Marco, mein bester Jünger, hat uns hinters Licht geführt und diese Frau verfügt über Kräfte, über Einfluss, den sie sich nicht verdient hat.«
Beifälliges Murmeln schwoll an und viele Augenpaare richteten sich zornig und drohend gegen April und Marco. Hände streckten sich ihnen entgegen und dunkle böse Schwingungen prallten gegen April wie nasse Schmutzlappen.
»Sie werden uns töten«, knurrte Marco.
»Werden sie nicht«, antwortete April. Sie spürte die negativen Schwingungen, die wie glitschige Finger über sie tasteten, die sie mit sich in die Abgründe der menschlichen Bosheit ziehen wollte, aber sie war gewappnet. Sie hatte lange genug zugeschaut, wie man es machte und so konzentrierte sie ihren Zorn, ihre Wut und ihre Verzweiflung in ihre Hände, richtete diese wie Waffen gegen die Gruppe Verwirrter und ließ los.
Stöhnen und Schluchzen bewiesen, dass sie es richtig gemacht hatte. Einige Jünger brachen zusammen, ihre Körper verrenkten sich und andere warfen sich auf den Boden. Aprils Kraft war die Bowlingkugel und die Jünger die Kegel. Als sie nach rechts blickte, sah sie, dass Marco sie unterstützte. Er war ein Oberer und er verfügte mindestens über so viel Kraft wie Licitus - oder Fernando - sie besessen hatte.
»Ich will IHN!«, zischte April und rannte quer durch die Halle zu Dragus. »Er soll für die Angst, die er mir gemacht hat, bezahlen.«
Dragus sprang lachend zurück, bückte sich, griff den Kristall und verschanzte sich hinter seinen Jüngern.
»Komm zurück«, rief Marco. »Er ist stärker als wir alle!«
»Und warum wehrt er sich dann nicht?«, rief April über ihre Schulter zurück. Vor wenigen Minuten noch hatte sie eiskalte Angst verspürt, nun war es eiskalter Hass. »Warum wehrt er sich nicht und bringt es zu Ende?«
Die meisten Jünger hatten sich wieder aufgerappelt. April stand vor der Menschengruppe wie vor einem Bollwerk.
Eine Frau, es war diejenige, die April geschlagen hatte, kicherte: »Wir lieben den Meister. Was willst du ihm antun? Wenn er will, vernichtet er dich mit einem Fingerschnippen.« Ihr Gesicht war ängstlich
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