Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
gefahren und hatte tagsüber bei einer Putzfirma gearbeitet.
Er berichtete von den Monaten, die er die Schulbank gedrückt hatte. Man hatte von ihm erwartet, dass er gemeinsam mit Einwanderern aus der ganzen Welt eine neue Sprache lernte. Viele von ihnen waren Analphabeten gewesen. Er hatte eingesehen, dass die Sprache der Schlüssel war. Wenn man sie erlernen wollte, musste man es alleine tun und die staatlichen Kurse, die ohnehin nur frustrierten, abschreiben. Der Kampf hatte Früchte getragen. Er hatte sich Geld für eine Imbissbude geliehen, aus dieser waren mehrere geworden und schließlich eine Kette von Lebensmittelgeschäften. Mittlerweile war Morteza Ghadjar ein geachteter und wohlhabender Mann. Er besaß eine der wichtigeren Lebensmittelgroßhandelsfirmen, die er selbst führte. Er war ein überzeugender Selfmademan.
»Aber Glück lässt sich nicht in Geld messen, oder?«, sagte Morteza Ghadjar und breitete die Hände aus.
»Und warum sind Sie nicht glücklich?«
»Ich bin allein. Ich habe niemanden, mit dem ich teilen könnte.«
»Und Ihre Frau?«
»Sie ist vor fast zehn Jahren an Krebs gestorben.«
Ulf Holtz merkte auf und sah Angela vor sich, seine geliebte Angela, die Mutter seiner Töchter. Die Alpträume waren in den vergangenen Jahren verblasst und, seit Nahid in sein Leben getreten war, fast verschwunden. Aber die Erinnerung an sie blieb wie ein stetes Rauschen im Hintergrund, und jetzt nahm dieses Rauschen zu. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber Morteza Ghadjar bemerkte Holtz’ Gemütswandel.
»Habe ich etwas Unpassendes gesagt, oder langweile ich Sie?«
»Nein, nein, überhaupt nicht. Ich dachte nur gerade an meine Frau. Sie ist vor vielen Jahren gestorben … an Krebs. Auch sie.«
Morteza Ghadjar nickte nur, er ließ die Stille sprechen.
»Erzählen Sie weiter«, sagte Holtz nach einer Weile.
»Jetzt sind nur noch Nahid und ich übrig, und ich habe große Pläne für sie. Sie ist sehr begabt. Ich hatte gehofft, dass sie BWL oder Jura studieren würde, um dann meine Firma zu übernehmen, aber wie immer setzte sie ihren Willen durch. Wie Sie wissen, entschied sie sich für Naturwissenschaften und diese … wie heißt das gleich wieder?«
»Forensische Wissenschaft. Sie will Forensikerin werden. Oder wollte es zumindest. Jetzt weiß ich nicht mehr so genau, was sie eigentlich will«, sagte Holtz, bereute es aber im selben Augenblick. Er wusste nicht, wie gut Nahids Vater über ihre Beziehung Bescheid wusste. Oder ihre Nicht-Beziehung.
»Wie sehen uns gelegentlich, wie Sie wissen.«
»Deswegen bin ich hier«, sagte Nahids Vater.
»Ja, das kann ich mir denken. Aber was wollten Sie eigentlich?«
»Ich will, dass Sie sie in Frieden lassen«, antwortete er mit einer gewissen Schärfe.
Ulf Holtz zuckte zusammen und holte tief Luft.
»Ich glaube, dass Nahid durchaus in der Lage ist, selbst darüber zu entscheiden, mit wem sie sich treffen will. Außerdem bin ich zu alt, um mir von jemand anderem vorschreiben zu lassen, wie ich mein Leben zu gestalten habe«, sagte er mit Nachdruck.
»Sie verstehen mich nicht …«
Holtz hörte nicht zu. Er wusste, worum es ging.
»Doch, ich verstehe Sie sehr wohl. Sie wollen, dass sie einen von ihren eigenen Leuten heiratet und nicht mit so einem alten Sack wie mir zusammen ist.« Holtz spürte seinen Puls am Hals. Er wusste nicht, woher diese Worte kamen, sie waren ihm fremd.
»Sie missverstehen mich.«
»Glauben Sie bloß nicht, dass Sie herkommen und entscheiden können, mit wem ich zusammen bin.« Er beugte sich vor. Er hatte das Gefühl, das Klopfen im Hals würde ihn ersticken.
»Sie mag sie sehr.«
»Bitte?«
»Nahid mag sie. Sehr sogar.«
»Aber, was zum Teufel, warum soll ich dann …«
»Es ist kompliziert. Glauben Sie mir, es hat nichts mit Ihrem Alter zu tun. Meine geliebte Frau war viele Jahre jünger als ich.«
»Aber warum, verdammt nochmal …« Er war sich nicht sicher, ob er sich freuen sollte, auf diese unerwartete Art zu erfahren, dass Nahid ihn immer noch mochte, oder ob er ihren Vater verfluchen sollte, der aus einem unbegreiflichen Grund an diesem Abend uneingeladen auf seinem Sofa, in seinem Wohnzimmer saß und ihn dazu aufforderte, Nahid nicht mehr zu treffen.
»Sie geht in den Iran«, sagte Morteza Ghadjar.
»Sie will den Iran besuchen?«
»Nein, nicht besuchen. Sie kehrt nach Hause zurück.«
E s hatte begonnen zu tauen. Der Schnee, der noch vor wenigen Tagen strahlend weiß geglitzert hatte, war
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