EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
täuschen.
Eine Flut von Anrufen hielt ihn pausenlos auf den Beinen: Eine Hirnblutung, ein Schädelhirntrauma und die Intensivstation meldete einen frischen Apoplex.
Um elf Uhr zog er sich in sein Büro zurück. Er legte sich für einen Moment auf die Couch und starrte an die Decke. Seine Beine fühlten sich wie gelähmt an, sein ganzer Körper war reglos. Er war erschöpft und deprimiert. Warum rackere ich mich auch so ab? Für wen machst du das, Jörg Kreiler?
Er hatte auf der neurochirurgischen Intensivstation die Hirnblutung eines Patienten zwar stoppen können, aber er wusste nicht, ob der zweiundvierzigjährige Mann und Vater von zwei kleinen Kindern die Nacht überleben würde. Er war fachlich versiert, aber manchmal war das nicht genug. Manchmal kamen die Patienten zu spät und manchmal auch er, wie damals bei seiner geliebten Katharina. Ihr Leben hatte er nicht retten können.
Es war nach Mitternacht, als er schließlich die Klinik verlassen konnte.
„Sie rufen mich an. Ich meine, falls Veränderungen eintreten, lassen Sie es mich wissen.“
Die Assistenzärztin nickte. Auch sie war erschöpft. „Wir halten Sie auf dem Laufenden. Sehe ich Sie morgen?“
Er schaute sie an. Sie war hübsch, aber brünett und kräftig. Er stand auf schlanke blonde Frauen, wie Katharina eine gewesen war.
„Nein, ich habe morgen den ganzen Tag in meiner Praxis zu tun. Der Terminkalender ist voll. Bis Mittwoch, Frau Kollegin.“
„Auf Wiedersehen, Herr Professor.“
Als er die Klinik verließ, hatte es aufgehört zu regnen. Am Himmel war ein Streifen mit Sternen zu sehen. Er zitterte vor Erschöpfung, als er vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr.
Einige Stunden später schreckte ihn das Telefon von seiner Couch auf. Er schaute auf die Uhr. Fünf Uhr morgens! Am anderen Ende meldete sich Anna, aufgebracht und spürbar erschöpft.
„Anna, beruhige dich. Was ist denn passiert?“
Er schnappte sich eine Packung Marlboro und schob sich eine Zigarette zwischen die Zähne.
Geduldig hörte er zu, wie sie tränenerstickt von dem nächtlichen Vorfall berichtete.
„Komm zurück“, sagte er zärtlich und blies eine Rauchwolke ins Zimmer. „Komm zu mir. Es sieht so aus, als würden die Erinnerungslücken sich allmählich schließen. Du brauchst unbedingt psychologische Betreuung. Weine nicht. Wie schnell kannst du denn in München sein?“ Er hörte ihr einen Moment zu. „Gut, dann ruf mich sofort an, wenn du angekommen bist. Und jetzt trocknest du deine Tränen und nimmst eine Valium-zwanzig. Es sind die kleinen blauen Tabletten, die ich dir vor deiner Abreise verschrieben habe. Danach wirst du ruhiger sein, okay? Und lass morgen Nacht Katharina zwischen euch schlafen. Das wird dir und der Kleinen nicht schaden.“
Wenig später beendete er das Gespräch und legte den Hörer auf. Er erhob sich, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blickte auf die Straße. Die Morgendämmerung begann sich auf Zehenspitzen in den Tag zu schleichen, im Osten färbte ein schwacher Lichtstreifen den Himmel.
***
Italien, in derselben Nacht
Ein Vogel mit schwarzen Schwingen flog dicht über Max’ linke Schulter hinweg. Er schreckte zurück, ging in die Hocke und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Das schwere Bündel in seinen Armen entglitt ihm und fiel mit hartem Aufschlag auf den mit Laub übersäten Weg.
Einen Moment lang blieb er geduckt hocken und zuckte zusammen, als der Rabe zurückkehrte. Doch dieses Mal flog der Vogel höher und war schon bald aus seinem Blickfeld verschwunden.
Was hatte es zu bedeuten, dass ein Rabe ihm so nahe kam? Sei vernünftig. Denk keine verrückten Sachen über Vögel. Doch die Furcht erwies sich als hartnäckig, und sein Verstand raste wie eine Billardkugel durch einen Irrgarten entsetzlicher Erinnerungen. Er begann zu zittern und zwang sich, seine Gedanken in logische Bahnen zu lenken. Der Rabe war bloß ein Vogel. Anna hatte ihn wohl schon mit ihrer Wahnvorstellung angesteckt.
Er ließ sich auf den feuchten Boden sinken. Anna … Er konnte immer nur an sie denken und das, was ihn für immer mit seiner Frau verband: ihre gemeinsam verbrachten Jahre mit all den unzähligen Erinnerungen, ihre Liebe, ihre Ehe, Katharinas Geburt. Alles andere hatte er verdrängt. Er wollte nichts über den Psychopathen wissen, der sie vor Jahren in seine Gewalt gebracht hatte, aber vor allem wollte er nicht wissen, was dieses Monster mit ihr angestellt hatte. Doch seit heute Nacht wusste er, dass sie
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