EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
beide noch immer mit Jakobs Schatten lebten …
„Ich habe gedacht, dass mein Erinnerungsvermögen wie ein Puzzle wäre und dass sich ein klares Bild ergäbe, wenn sich die Lücken schließen, aber das ist bis heute nicht geschehen“, hatte Anna gesagt.
Es gab keine reale Gefahr mehr für seine Frau, und doch war ihm in letzter Zeit unbehaglich zumute gewesen. Irgendetwas ging in ihr vor. Wenn er sie auf dieses Gefühl ansprach, wich sie ihm aus und wies ihn zurück. Er konnte sie nicht erreichen. Und heute Nacht hatte Anna Arko, ihren Rottweiler, erschossen, der sich im Garten herumgetrieben hatte. Und sie war überzeugt, dass es dieser Psychopath gewesen war.
Verdammt noch mal, dachte er. Du bist kein kleiner Junge mehr, Max Gavaldo. Du bist fünfunddreißig und ein Mann. Führ dich nicht auf wie ein Kind.
Er sagte sich, dass es die frische morgendliche Herbstbrise war, die ihn frösteln ließ – nicht sein Grauen oder sein Aberglaube. Und auch nicht, dass er erst in der vergangenen Nacht geträumt hatte, ihm wären sämtliche Haare ausgefallen. Er schauderte bei dem Gedanken daran.
Annas Erinnerungsvermögen war zurückgekehrt, und sie versuchte das hier in Italien vor ihm zu verbergen. Manchmal klang ihre Stimme so fremd wie die einer anderen Frau.
Er war blind gewesen und anscheinend immer noch nicht erwachsen genug zu sehen, dass seine Frau den Versuch unternahm, sich mit jenem Teil der Vergangenheit, in dem sie von Jakob in einem dunklen Raum gequält worden war, auseinanderzusetzen. Sie hielt diese Erinnerungen vor ihm zurück, sie versteckte sie wie Alpträume, die im tiefen Schlaf vergraben blieben, um sich zu schützen.
Er schauderte. Ein Käfer krabbelte über die karierte Wolldecke, und ein leichter Blutgeruch drang in seine Nase. Er wischte den Käfer weg, erhob sich, nahm das Bündel wieder auf und ging tiefer in den Wald.
Als Begräbnisplatz für Arko hatte er eine Stelle mit Aussicht im Sinn gehabt. Sein Freund Benedikt van Cleef, Leiter der Mordkommission München, hatte ihm einmal erklärt, dass Mörder ihre Opfer häufig an solchen Stellen vergruben, deshalb hatte er nach einem Ort Ausschau gehalten, den nur er selbst wiederfinden konnte und wo die Kennzeichen Anna nicht sofort ins Auge stechen würden.
An der gewählten Stelle angelangt, legte er den Hund zur Seite und wappnete sich für die nächste Aufgabe, das Graben. Der Boden war hier nicht so hart wie an anderen Stellen im Wald, dennoch fiel es ihm schwer, schließlich war er diese Arbeit nicht gewohnt.
Seine Hände in den Lederhandschuhen waren schweißnass. Er griff nach dem kleinen Spaten. Vom knirschenden Klirren des ersten Stoßes ins Erdreich wurde ihm schwindlig, doch er riss sich zusammen. Er blickte auf die harten Muskeln seiner Arme, seine schlanken Hände, die Füße in den Stiefeln, zwängte seine Kraft in ein Geschirr erinnerter Bewegungen – einstechen, nachtreten, heben und schwingen, einstechen, nachtreten, heben und schwingen. So hatte es ihm sein Vater beigebracht. Schließlich verfiel er in einen von jeglichem Denken losgelösten Rhythmus, einen vertrauten Takt.
Als er Arkos Körper in das ausgehobene Loch bettete und mit Erde bedeckte, weinte er. Er weinte nicht um den Hund, obwohl er ihn gemocht hatte, er weinte um Anna, um die Frau, in die er sich vor Jahren verliebt hatte und die von Tag zu Tag seltsamer wurde.
Als das Grab gefüllt war, sammelte er Blätter und verteilte sie auf der Oberfläche, so dass der Platz mit seiner Umgebung verschmolz. Er trat zurück und betrachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln. Als er sicher war, dass das Grab auch von Anna nicht gefunden werden konnte – die bestimmt danach suchen würde –, packte er den Spaten weg und ging den Weg zurück.
Eine Stunde später schenkte er sich einen Cognac ein und beobachtete das Feuer im Kamin. Mit seinen Gedanken in der Morgendämmerung zu sitzen erschien ihm irgendwie erträglicher, als ruhig im Bett liegen zu müssen. Immer wieder drängte sich ihm Annas Bild auf, wie sie vor dem Fenster stand und in die Nacht hinausschrie. Er liebte seine Frau, sie war für ihn von unwiderstehlichem Zauber. Seltsam, dass ihm erst heute Morgen auffiel, dass er nur zwei Empfindungen kannte: heiße Sehnsucht und unbändigen Ehrgeiz. Er war ein brillanter Manager mit einem todsicheren Spürsinn für Neuerungen, steckte voller Ehrgeiz und wollte die Welt erobern. Aber nur mit Anna an seiner Seite.
Ich werde ihr sagen, dass sie den Hund getötet
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