Eiskalter Sommer
seine beiden Kameraden die Tür hinter sich geschlossen hatten, setzte Jan sich neben Susanne Clasen auf die Eckbank und legte den Arm um ihre Schultern. „Morgen bringen wir dich mit eurem Trecker ins Dorf. Gibt es dort einen Arzt?“
Das Mädchen starrte weiter geradeaus. „Wenn einer krank ist, holen wir den Doktor Pfaffinger“, murmelte sie. „Die Praxis ist ganz in der Nähe, gegenüber der Frauenkirche.“
Jan wusste nicht, wie er auf die seltsame Antwort reagieren sollte. Sein Blick wanderte ziellos durch die Küche. Nach dem ersten Schock hatte er es vermieden, Susanne anzusehen. Doch ihre Worte erinnerten ihn an ihre Kopfverletzung, und er untersuchte vorsichtig die Wunde. Von der Schläfe zog sich eine breite Bahn geronnenen Blutes über die Wange bis zum Kinn. „Das ist bestimmt gar nicht so schlimm wie es aussieht“, versuchte er, sie – und sich selbst – zu beruhigen. „Die Verletzung ist nicht groß und sie blutet auch nicht mehr.“ Er sah sich um. „Habt ihr hier irgendwo Verbandzeug?“
Da Susanne nicht antwortete, machte Jan sich auf die Suche und wurde schließlich im Badezimmer fündig. Nachdem er Gesicht und Wunde gereinigt und einen Verband angelegt hatte, hörte er draußen das dumpfe Wummern eines Motors. „Sie haben den Trecker in Gang gesetzt“, sagte er mehr zu sich. „Jetzt bringen wir dich ins Dorf.“
Behutsam führte er Susanne nach unten. Im Hof erfüllten Abgaswolken und der Klang des schweren Diesels die Luft. Hendrik hockte auf dem Fahrersitz des grünen Ungetüms.
„Ich bleibe hier“, verkündete Sven, als Jan mit dem Mädchen erschien. „Hendrik fährt.“
Auf dem Trecker war Platz für drei Personen. Links neben dem Fahrer konnten zwei Passagiere auf dem Kotflügel sitzen. Vorsichtig dirigierten sie Susanne auf den Sitz, Jan quetschte sich neben sie, und Hendrik legte den Gang ein. Der Schlepper ruckte an und wühlte sich durch den Schnee. Susanne saß völlig teilnahmslos da, wie erstarrt.
Als sie die Hofausfahrt erreichten, wurde das Motorengeräusch vom Lärm des einstürzenden Stalldaches übertönt. Eine gewaltige Funkenwolke stieg auf und regnete auf den Hof und die anderen Dächer nieder. Während Hendrik damit beschäftigt war, den Hanomag in der Spur zu halten, starrte Jan auf das Bild des berstenden Gebäudes. Susanne schien von dem Getöse und dem Anblick nichts mitzubekommen.
Sven winkte ihnen beruhigend zu. Offenbar bestand für das Wohnhaus keine Gefahr.
Jan wandte den Blick nach vorn. Vor ihnen lag eine konturenlose Schneewüste. Begleitet vom Brüllen der im Schnee festsitzenden Rinder bahnte sich der Schlepper seinen Weg in die weiße Landschaft.
*
Konrad Röverkamp wurde unsanft aus seinen Träumen gerissen, als in der Brusttasche seines Hemdes das Handy vibrierte und die ersten Takte aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ erklangen.
Als er sah, dass Marie Janssen aus der Dienststelle anrief, zögerte er kurz, bevor er dann doch die Annahmetaste drückte und sich meldete.
„Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung“, versicherte seine Kollegin. „Ich will dich nur vorwarnen. Kriminaloberrat Christiansen hatte Besuch von Staatsanwalt Krebsfänger. Und nun will er mit uns sprechen. Morgen früh um neun. Es geht um den aktuellen Fall. Mehr hat er nicht gesagt. Sonst gibt es nichts Neues.“
Angesichts der ihn umgebenden minimal bekleideten, fröhlichen Urlauber erschienen Konrad Röverkamp die Fälle der erfrorenen Männer plötzlich seltsam unwirklich. Als gehörten sie in eine andere Welt und in eine andere Zeit. „Dann sollten wir uns auch keine Gedanken machen“, sagte er. „Trotzdem danke für den Hinweis, Marie. Ich werde morgen früh pünktlich im Büro sein.“
Seltsamer Typ, dieser Krebsfänger. In seinen früheren Dienststellen war Röverkamp bei Kapitalsachen deutlich motivierteren und engagierteren Staatsanwälten begegnet, mit denen er eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet hatte. Dass die Staatsanwaltschaft eigentlich sogar Herrin des Ermittlungsverfahrens war, hatte er dabei nie zu spüren bekommen. Bei Krebsfänger ist von alledem so gut wie nichts vorhanden. Zwar lässt er sich bei Obduktionen kurz blicken und setzt sich mit wichtigtuerischen Sprüchen in Szene, aber sonst ... Was also will er nun vom Chef?
Nach dem kurzen Gespräch mit Marie fühlte sich sein Mund so trocken an, dass er sich nach dem Wirt umsah, um ein weiteres Bier zu bestellen. Doch dann fiel sein Blick auf die Striche auf seinem Bierdeckel
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