Eiskalter Wahnsinn
gewollt hätte, hätte sie wahrscheinlich eines finden können. Sie musste sich nur sein High-School-Jahrbuch oder eine Kopie seiner Fahrerlaubnis beschaffen. In der Zulassungsstelle in Wisconsin hätte ihr garantiert jemand geholfen. Besonders, wenn sie ihre FBI-Marke gezeigt hätte. Aber sie hatte das nicht gemacht, weil er durch ein Foto vielleicht zu real geworden wäre.
Maggie nahm den Umschlag der Mutter vom letzten Jahr zur Hand, der alle Nachforschungen in Gang gesetzt hatte. Als sie von der Existenz eines unehelichen Halbbruders erfahren hatte, war sie überzeugt gewesen, ihre Mutter lüge, um sie für die immer noch innige Liebe zu ihrem heldenhaften toten Vater zu bestrafen. Einer solchen Grausamkeit hatte Maggie sie durchaus für fähig gehalten, da sie mit einer ansehnlichen Dosis von Kathleen O’Dells Strafen aufgewachsen war. Sogar Kathleens viele gescheiterte Selbstmordversuche nach dem Tod des Vaters schienen Maggie einzig ihrer Bestrafung zu dienen. In einer Aufwallung von Zorn hatte Kathleen ihr entgegengeschleudert, ihr Vater habe bis zu seinem Tod eine Affäre gehabt. Geglaubt hatte sie das jedoch erst, als Kathleen ihr den Umschlag mit Namen und Anschrift ihres Halbbruders präsentiert hatte.
Maggie öffnete ihn und zog wie schon oft die einzelne Karte vorsichtig an einer Ecke heraus. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter mit den lustigen Kringeln über den Is. Ihr Halbbruder hieß Patrick und war nach ihrem Onkel benannt, dem einzigen Bruder ihres Vaters. Maggie hatte diesen Onkel nie kennen gelernt. Der legendäre Patrick war nicht aus Vietnam zurückgekehrt. Heldentum lag offenbar in der Familie, doch sie hatte nichts dafür übrig, denn es hatte ihr den Vater genommen, als sie zwölf war.
Sie schob die Karte in den Umschlag zurück, zumal sie die Adresse inzwischen auswendig kannte. Ihre neuesten Recherchen hatten ergeben, dass sie noch stimmte. Er lebte immer noch in West Haven, Connecticut, nur fünfundzwanzig Meilen von dem Ort entfernt, wo Gwen Pattersons Patientin verschwunden war.
Das Klingeln ihres Handys erschreckte sie und veranlasste Harvey seinen Knochen zu verlassen und sich vor sie zu setzen. Die Macht der Gewohnheit vermutlich, denn das Klingeln des Telefons bedeutete für Harvey, dass sie bald wegmusste.
„Maggie O’Dell“, meldete sie sich und bedauerte, das Telefon nicht ausgeschaltet zu haben. Schließlich hatte sie Urlaub.
„O’Dell, hast du Nachrichten gehört oder gesehen?“ Es war Tully.
„Ich bin gerade nach Haus gekommen. Ich habe Urlaub.“
„Du möchtest das vielleicht nachprüfen. AP meldet, dass außerhalb von Wallingford, Connecticut, eine Frauenleiche gefunden wurde.“
„Mord?“
„Klingt so. In ersten Berichten heißt es, dass sie in einem Steinbruch entdeckt wurde, in einem Fünfundfünfzig-Gallonen-Fass, unter Bergen von Stein.“
„Oh Gott, glaubst du, das ist Gwens Patientin?“
„Ich weiß es nicht“, gestand er. „Sonderbar nur, dass es in derselben Stadt passierte. Das ist fast zu viel Zufall, findest du nicht?“
Maggie glaubte auch nicht an Zufälle. Trotzdem, das konnte nicht sein. Tully zog da voreilige Schlüsse, und sie ebenfalls. Vielleicht, weil sie Schuldgefühle hatte. Sie bedauerte jetzt, dass sie Gwen heute Morgen nicht gleich ernst genommen und noch nicht einmal die örtliche Polizei angerufen hatte, um Joan Begleys Spur aufzunehmen oder eine Vermisstenmeldung aufzugeben. „Warum wird das hier in den Nachrichten gemeldet?“
„Weil es vielleicht nicht die einzige Leiche ist. Da könnten noch andere liegen. Vielleicht dutzende.“
Sie erkannte den Unterton in Tullys Stimme. Sie wusste, dass seine kleinen grauen Zellen bereits arbeiteten und gewisse Möglichkeiten erwogen. Noch so eine Berufskrankheit. Nein, mehr als das. Es war schwer zu beschreiben, aber sie spürte, wie es auch von ihr Besitz ergriff, ein Jucken, ein Reiz, eine Obsession. Genau wie Tully erwog sie bereits Möglichkeiten, stellte sich Fragen und suchte Antworten. Dabei stand eine Frage im Vordergrund: Was, wenn es die Leiche von Joan Begley war?
Gwen hatte in all den Jahren, die sie sich kannten, nie um etwas gebeten – bis heute. Und anstatt ihr zu helfen und sofort alles Nötige in die Wege zu leiten, war sie achselzuckend über ihre Besorgnis hinweggegangen, nur weil der Ort, um den es ging, sie an etwas und jemanden erinnerte, an den sie nicht erinnert werden wollte.
„Hey, Tully.“
Ja?“
Sie wusste, dass er nicht überrascht
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