Eiskalter Wahnsinn
sein würde, sondern sie verstand. Warum sonst hätte er sie angerufen, um ihr die Nachricht weiterzugeben. „Glaubst du, du und Emma, ihr könntet Harvey für ein paar Tage nehmen?“
11. KAPITEL
Das war schlimm, richtig schlimm. Wie hatte das passieren können?
Er trat auf die Bremse und achtete auf den Wagen vor ihm. Er musste Abstand halten. Er musste nach vorn blicken und nur gelegentlich prüfend in den Rückspiegel schauen. Ein riesiger Geländewagen folgte ihm dichtauf, und die beiden Idioten verrenkten sich die Hälse, um besser zu sehen. Aber da war nichts zu sehen. Die Entfernung war zu groß, und die Bäume standen zu dicht. Von der Straße konnte man nichts erkennen. Er wusste das. Und doch musste er sich zwingen, nicht hinzusehen. Sieh nicht hin!
Da waren mindestens ein Dutzend Einsatzwagen. Und Medienvans. Wie hatte das passieren können? Er war außer sich gewesen, als er davon in den Nachrichten hörte. Vor allem, weil diese magersüchtige Reporterschlampe die Neuigkeit, die für ihn den Himmel einstürzen ließ, so munter verbreitete.
Was zum Teufel bildete sich dieser Calvin Vargus ein? Warum musste er ausgerechnet jetzt das Gelände aufräumen? Es lag seit über fünf Jahren brach. Der Besitzer kümmerte sich nicht darum. Es diente ihm nur zur Steuerabschreibung. Er lebte nicht mal in der Gegend. Also warum fing Vargus plötzlich an, das Zeugs zu bewegen? Oder wusste er etwas? Hatte er Verdacht geschöpft? Wollte Vargus ihn fertig machen? Wusste er Bescheid? Aber woher? Unmöglich. Nicht nur unmöglich, schlicht unvorstellbar. Er wusste nichts. Ausgeschlossen.
Atmen. Er musste atmen. Aber es ging nicht. Atme! Der kalte Schweiß brach ihm aus, und es war noch nicht einmal Mitternacht. Das Kribbeln begann in den Fingern. Die Eiseskälte kroch ihm vom Nacken bis in die Taille hinab. Er musste es stoppen. Stopp, stopp, stopp! Er musste die Panik aufhalten, ehe sie ihm den Magen umdrehte.
Den Blick auf die Straße gerichtet, wühlte er mit einer Hand suchend in der Reisetasche auf dem Beifahrersitz. Der Wagen vor ihm fuhr zu langsam. Die Insassen reckten die Hälse. Dämliche Gaffer. Was konnten sie schon sehen? Inzwischen sollten sie wissen, dass sie hinter den Bäumen nichts entdecken konnten. Arschlöcher. Dämliche Arschlöcher Beweg dich! Beweg dich endlich!
Er spürte schon die Übelkeit. Die Panik begann ihm die Eingeweide zu verkrampfen. Gleich würde ihm ein stechender Schmerz durch den Bauch jagen, als schnitte ihn ein scharfes Messer von innen nach außen auf. Seine Muskeln verkrampften sich bereits, ein Starrereflex, um sich auf den Schmerz vorzubereiten, auf das Entsetzen, die Agonie. Schweiß lief ihm den Rücken hinab, während er verzweifelt mit der Hand wühlte und tastend suchte. Schließlich berührte er die Plastikflasche, umfasste sie und riss sie vom Boden der Reisetasche hoch. Zornig über das Zittern seiner Hände, fummelte er an der Kappe mit der Kindersicherung herum und konnte sie zum Glück während der Fahrt öffnen. Wie ein Verdurstender schluckte er die weiße kalkige Flüssigkeit, ohne bei der empfohlenen Dosis Halt zu machen.
Sobald der Schmerz begonnen hatte, war es ein Wettrennen gegen die Zeit, ihn zu unterdrücken. Er nahm noch einen guten Schluck und verzog das Gesicht über den Geschmack. Das Zeug reizte zum Würgen, und das würde er tun, wenn er weiter darüber nachdachte.
Nicht denken. Nicht dran denken!
Diesen Geschmack assoziierte er mit seiner Kindheit, mit einem dunklen, stickigen Schlafzimmer, der kühlen Hand seiner Mutter auf der Stirn und ihrer sanften lockenden Stimme, die sagte: „Du wirst dich gleich besser fühlen. Ich verspreche es.“
Er drehte die Kappe wieder auf die Flasche und wischte sich mit dem Hemdsärmel über den Mund. Abwartend schaute er nach vorn auf die Straße und die flammend roten Rücklichter des vorderen Wagens. Rote Dämonenaugen strahlten ihn an, während die Idioten im Innern weiter Maulaffen feilhielten. Er hätte gern auf die Hupe gedrückt, konnte es aber nicht. Er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er musste warten. In der Schlange bleiben und warten. Warten, einfach warten.
Vielleicht war es gar nicht Vargus gewesen. Seine Gedanken begannen wieder um den Steinbruch zu kreisen. Was war mit diesem anderen Typen – Racine? Luc Racine. Luc mit „c“ hatten sie am unteren Rand des Fernsehbildes eingeblendet. Der Name kam ihm bekannt vor. Waren sie sich schon begegnet? Ja, er war sich dessen
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