Eiskalter Wahnsinn
gedruckter Geschichten, doch was Henry erzählte, schien alles zu übertreffen. Was waren da schon Deaver oder Cornwell, seine Story hätte einem Stephen King oder Dean Koontz zur Ehre gereicht.
„Schatz“, sagte Rosie zu ihrem Mann und legte ihre kleine Hand auf seine große Pranke, die fast den kleinen Tisch bedeckte. „Vielleicht war es ein Landstreicher, und euer Fund hat ihn verscheucht.“
„Nein. O’Dell sagt, es handelt sich um eine paranoide, delusorische Persönlichkeit. Solche Typen bleiben gewöhnlich in ihrer angestammten Umgebung, eben weil sie paranoid sind. Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wer hier draußen allein auf einem größeren Anwesen lebt. Aber selbst die, die mir einfallen, scheinen nicht der passende Typ zu sein.“
„Die Profilerin sagt, dass er in der Nähe lebt?“ fragte Lillian und wusste nicht genau, warum ihr dabei kurz das Herz auszusetzen schien. Vielleicht weil ihr bewusst wurde, dass die Ereignisse real waren. Ihr war es lieber, sie als Fiktion zu betrachten.
„Wahrscheinlich holt er sich jeden Tag seinen Kick, wenn er die Nachrichten liest oder sieht.“
„Wenn er paranoid ist, Henry, holt er sich keinen Kick“, widersprach Rosie. „Wäre er nicht eher deprimiert, weil ihr sein Versteck gefunden habt? Vielleicht sogar wütend?“
Henry sah seine Frau erstaunt an, als hätte er nicht erwartet, eine so treffende Analyse von ihr zu hören. Ihre Schlussfolgerung war jedoch logisch. Man brauchte weder Psychologe noch Sherlock Holmes zu sein, um sich denken zu können, dass der Täter jetzt außer sich war.
„Ja, er ist vermutlich außer sich“, stützte Lillian Rosies These. „Macht ihr euch Sorgen, dass er hinter einem von euch her sein könnte?“
„O’Dell hält es nicht für ausgeschlossen, dass er jemanden aufs Korn nimmt.“ Es bedrückte ihn offenbar, dass auch sie auf diese Möglichkeit gekommen war. „Sie sagte, der Typ könnte in Panik geraten. Aber ich glaube nicht, dass er sich einen groben Schnitzer erlaubt.“
Lillian nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass sie dieselben Schlussfolgerungen gezogen hatte wie die Profilerin. Vielleicht verstand sie sich ja inzwischen auf solche Analysen. Vermutlich brauchte man nicht unbedingt reale Erfahrung mit Verbrechen, sie hatte immerhin alles über psychopathische Killer gelesen.
„Vermutlich hat die Profilerin gesagt, dass er ein Einzelgänger ist, ein unauffälliger Mensch, der unbemerkt seinen Geschäften nachgeht.“
Sie mochte solche Gedankenspiele und versuchte sich an ihre Lieblingsgeschichten über Serientäter zu erinnern. „Vermutlich erregt er in der Öffentlichkeit nicht viel Aufmerksamkeit“, fuhr sie fort, während Henry und Rosie lauschend ihren Kaffee tranken, „und gilt als ganz netter Bursche. Er arbeitet mit den Händen, ein geschickter Mann, der Zugang zu einer Vielzahl von Werkzeugen hat. Seine Neigung zu töten lässt sich natürlich auf die unsichere emotionale Bindung zur Mutter zurückführen, die zweifellos eine sehr dominante Persönlichkeit war.“
„Woher weißt du so viel über ihn?“ fragte Henry.
Allerdings war sein Blick nicht nur bewundernd, sondern auch eine Spur argwöhnisch, wenn Lillian sich nicht täuschte.
„Ich lese viel. Romane. Krimis. Thriller.“
„Sie liest viel“, bestätigte Rosie, als müsste sie für ihre Geschäftspartnerin bürgen.
Lillian blickte von Rosie zu Henry, der sie zu mustern schien. Darauf war sie nicht gefasst gewesen und spürte, wie ihr leichte Röte den Nacken hinaufkroch. Nervös schob sie sich die Brille den Nasenrücken hinauf und strich sich das Haar hinter die Ohren. Glaubte er wirklich, sie wüsste etwas über diesen Fall – über diesen Killer?
„Vielleicht sollte ich mehr lesen“, sagte er schließlich lächelnd. „Dann könnte ich den Fall eventuell leichter knacken. Aber ehrlich gesagt, klang es für eine Minute so, als würdest du jemand Bestimmtes beschreiben, jemanden, den du ziemlich gut kennst.“
„Wirklich?“ erwiderte sie und überlegte, wer ihrer Beschreibung entsprechen könnte. Plötzlich wüsste sie es, und ihr wurde beklommen zu Mute. Sie kannte in der Tat jemanden, auf den ihre Beschreibung zutraf, und der entstammte keinem Roman. Die Person, die sie beschrieben hatte, konnte sehr leicht ihr Bruder Wally sein.
29. KAPITEL
Es war schon spät, als Maggie im Ramada Plaza Hotel ankam. Allmählich begann sie die Anstrengung des Tages zu spüren. Zwischen ihren Schulterblättern schmerzte
Weitere Kostenlose Bücher