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Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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das angetrocknete Erbrochene an meinen Schuhen. Ich konnte nicht mehr.
    »Mir ist so schlecht«, flüsterte ich. »Und ich will meine Eltern anrufen.«

12
Mai
    Jemand tippte mir auf die Schulter. Tine. Sie war mir gefolgt und reichte mir meine Tasche. »Die lag doch genau neben dir auf dem Boden, Lena. Hast du das nicht gemerkt?«
    Ich betrachtete meine Tasche, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen. Was war nur mit meinem Kopf los?
    »Lena? Was ist denn?« In Tines Gesicht standen Verwirrung und Angst. Hinter ihr tauchten Julia und Nadine auf, Julia kaute an ihren Fingernägeln herum, wie immer, wenn sie unter Stress stand.
    »Haben Sie Vanessa den Ohrring abgerissen?«, fragte der Mann von der Kripo mich jetzt noch mal.
    Ich hielt meine Tasche wie ein Schutzschild vor mich. »Wieso … also …«
    »Also was? Ist doch eine einfache Frage.« Der Mann sah mich prüfend an. »Wie heißen Sie denn?«
    »Lena Koschatz.«
    »Hauptkommissar Wenzel. Hatten Sie einen Streit mit Vanessa Klinger?«
    »Nein.«
    »Nein!« Irgendjemand stieß verächtlich die Luftaus. Es klang wie die Stimme eines Mädchens. Ich nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Nadine leicht zustimmend nickte und Julia bedeutungsvoll die Augenbrauen hochzog.
    Der Mann runzelte kurz die Stirn. »Also – Sie hatten keinen Streit. Haben Sie den Ohrring abgerissen?«
    Ich wusste es nicht. Ich konnte mich, verdammt noch mal, einfach nicht erinnern. Irgendwann war ich gestern Abend vor eingebildeten Hexen und Hexenjägern davongerannt, vor dem Wind in den Zweigen und dem Schatten des Feuers, ängstlich wie eine Fünfjährige. Und dann? Was war danach passiert? Wie war ich zu dem Weg am Felsen gekommen?
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte ich kaum hörbar und holte hastig mein Telefon aus der Tasche.
    »Was haben Sie gesagt?« Der Mann beugte sich vor.
    Ich wollte nicht mehr mit ihm reden. Er sollte mich endlich in Ruhe lassen. »Ich will jetzt meine Eltern anrufen«, erklärte ich und zerquetschte dabei fast mein Handy. Mein Kopf dröhnte immer noch, ich gierte nach einer Flasche Wasser, aber den Mann wollte ich nicht fragen. Und die Leute um mich herum auch nicht. Wie sie mich alle anstarrten. Flüsterten, tuschelten, die Köpfe schüttelten. Meine eigenen Freundinnen verharrten unsicher in der Menge, als befände sich plötzlich ein unsichtbarer, aber tiefer Graben zwischen uns. Gelegentlich wehtenkleine Schnipsel der Unterhaltung zu mir: »… ist doch die von gestern … was damit zu tun … durchgerissen, durch das Ohrläppchen … gehasst wie die Pest … hab gehört …«
    »Wie alt sind Sie denn?«
    »Siebzehn.«
    »Na schön. Rufen Sie Ihre Eltern an. Aber Sie bleiben bitte hier stehen.«
    Meine Finger glitten über das Handy, scrollten sich fieberhaft durch die Kontakte und drückten auf Eltern . Meine Mutter nahm beim ersten Klingelton ab.
    »Mein Gott, wo steckst du denn? Wir haben uns solche Sorgen gemacht, wieso rufst du denn nicht zurück? Papa wollte gerade losgehen, dich suchen!«
    »Kann er bitte herkommen? Zur Wiese an den Felsen?« Meine Stimme klang offenbar, als ob ich kurz vor der Hysterie stand, denn augenblicklich änderte sich der Ton meiner Mutter.
    »Oh, Schatz, was ist denn? Ist alles in Ordnung?«
    »Mir geht es gut«, presste ich heraus, obwohl das die blanke Lüge war, ich hatte das Gefühl, ich müsste mich schon wieder übergeben. »Aber es ist was passiert.« Im Telegrammstil weihte ich meine völlig schockierte Mutter in das Geschehen der letzten Stunde ein. Als ich von der toten Vanessa berichtete, schnappte meine Mutter entsetzt nach Luft.
    »Die armen Eltern«, flüsterte sie. »Das ist ja furchtbar. Natürlich kommen wir und holen dich, sollen wir Tine gleich mitnehmen? Und Leander?«
    Sie schien ganz vergessen zu haben, dass ich nicht mehr mit Leander zusammen war. Abgesehen davon war ich noch nicht ganz fertig. »Die von der Polizei wollen noch mit mir reden. Ich will, dass ihr herkommt.«
    »Wieso wollen die mit dir reden?«
    Ich schloss kurz die Augen. »Die fragen alle.« Das war nicht mal gelogen. Ein Mann in Uniform sprach gerade weiter vorn mit Leander. Plötzlich klappte Leander in der Mitte zusammen, krümmte sich, fiel auf die Knie und schlug mit den Fäusten auf den Boden.
    Tine rannte zu ihm, umarmte ihn unbeholfen, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann sah sie zu mir. »Der Ohrring?«, formte ihr Mund lautlos.
    »Wir sind schon unterwegs.« Meine Mutter hatte aufgelegt.
    Ich fror, obwohl es so warm

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