Eiskaltes Schweigen
begreifen, dass die Bahn schon an der richtigen Haltestelle stand. Dieses Mal war Durians Timing zu knapp gewesen. Oder er hatte die Laufzeit von Kurznachrichten unterschätzt. Er wollte mir keine Zeit zum Nachdenken lassen. Wobei mein Kopf zurzeit ohnehin nicht zu klaren Gedanken fähig war. Um die Tür zu erreichen, musste ich mich durch eine Gruppe aufgekratzter Jugendlicher drängeln, die vermutlich auf dem Weg nach Heidelberg waren, um dort etwas zu erleben. Als ich die Tür erreichte, fuhr die Bahn bereits wieder an. Die Mädchen musterten mich neugierig. Hübsch zurechtgemachte und etwas zu aufdringlich duftende Teenager im Alter meiner Töchter.
Verflucht! Verflucht, verflucht!
Die nächste Haltestelle war Schriesheim.
Hoffentlich verlor Durian jetzt nicht die Nerven! Ich konnte doch nichts dafür, dass er nicht rechnen konnte. Oder sollte auch das Berechnung sein? Um eventuelle Bewacher und Begleiter zu verwirren?
Die Bahn in der Gegenrichtung kam zum Glück nur Minuten später.
Noch bevor ich sie in Leutershausen wieder verlieÃ, die nächste SMS: »Der dunkelblaue Lieferwagen.«
Ich sah den Wagen sofort. Er stand auf dem fast vollen Parkplatz des Edeka-Markts ganz in der Nähe der Haltestelle. Dennoch musste ich einige Schritte laufen, um den hohen Drahtzaun zu umrunden, der den Parkplatz von der Haltestelle abgrenzte. In Gedanken spielte ich unentwegt Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch. Ich konnte Durian sofort an die Gurgel gehen und ihn so lange würgen und foltern, bis er mir Theresas Versteck verriet. Ich konnte sein Spiel ein Weilchen mitspielen, bis sich eine günstige Gelegenheit bot, ihn zu überwältigen und dann so lange zu würgen und zu foltern â¦
Schon stand ich vor dem Lieferwagen, im Regen, beide Hände in den Manteltaschen. Von irgendwo duftete es verführerisch nach Pizza, und ich merkte plötzlich, wie hungrigich war. Wenige Meter neben mir stand ein Imbisswagen, der Pizzaschnitten verkaufte. Er hatte um diese Zeit kaum Kundschaft.
Nein, schon wieder völliger Unsinn. Durian würde natürlich seine VorsichtsmaÃnahmen getroffen, sich irgendwelche Gemeinheiten ausgedacht haben, um genau das zu verhindern, was ich vorhatte: ihn einfach zu überwältigen und festzunehmen.
Soweit von auÃen erkennbar, war der Lieferwagen leer. Das Kennzeichen war französisch, die Beschriftung auf der Tür ebenso. Ich wurde nasser und nasser vom Regen. Durian hielt sich vermutlich in der Nähe versteckt und beobachtete mich mit einem fiesen, schadenfrohen Grinsen im Gesicht.
Was mochte sein Plan sein? Er wollte mich töten, das war klar. Aber vermutlich nicht sofort. Hier, mitten im Ort, war das zu gefährlich für ihn. Obwohl er nichts mehr zu verlieren hatte. Ich war der Letzte auf seiner Liste, sein eigener Tod war Teil seines Plans. Vielleicht würden wir auch erst ein Stück zusammen fahren, irgendwo, an einer einsamen Stelle, würde er halten und â¦
Und dann würde ich ihm sein Messer aus der Hand schlagen und meine Pistole zücken. Nein. Ich sollte die Pistole doch besser sofort zücken, gleich hier. Auf die Gefahr hin, auf einem nicht ganz unbelebten Parkplatz schieÃen zu müssen. Aber was, wenn er sich dann einfach selbst tötete? Mit seinem Messer? Was, wenn ich ihn erschieÃen musste? Wie sollte ich dann Theresas Verlies finden?
Meine Gedanken wirbelten im Kreis, wurden immer wirrer statt klarer.
Ich befand mich in einer verteufelten Zwickmühle, aus der es einfach keinen Ausweg gab. Das Beste würde wohl sein, ihm erst einmal seinen Willen zu lassen, bis Theresa in Sicherheit war, und dann â¦
»Guten Abend, Herr Gerlach«, sagte die Stimme hinter mir, die ich vor unendlich langer Zeit und dann noch einmal vor wenigen Minuten am Telefon gehört hatte.
Nie im Leben hätte ich ihn auf der StraÃe erkannt. Er war älter geworden, natürlich, und hagerer. Vor mir stand ein mittelgroÃer,mittelschlanker, mittelblonder Mann mit Mittelscheitel, und mir wurde bewusst, dass ich ihm niemals persönlich begegnet war. Als er damals die Bank verlieÃ, war ich längst zu Hause gewesen. Als er eine Stunde später verhaftet wurde, schlief ich.
Michael Durian trug einen lappigen dunkelgrauen Tuchmantel, eine Brille mit billigem Horngestell und offenbar eine Perücke. Sein schmales Gesicht verunstaltete ein Vollbart, der möglicherweise
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