Eiskaltes Schweigen
Niemand kümmerte sich um mich. Niemand wunderte sich über meine Eile.
Ich ertappte mich bei Mordfantasien. Sollte Theresa etwas zustoÃen, dann würde Durian den schmerzvollsten aller Tode sterben. Und wenn es mich meine Stellung kostete und wenn ich dafür bis ans Ende meiner Tage hinter Gittern sitzen musste, ich würde ihn töten.
Die um diese Uhrzeit beinahe komplett dunklen Gerichtsgebäude blieben hinter mir, das der Staatsanwaltschaft, wo ich mindestens einmal die Woche meist nicht sehr angenehme Termine hatte.
Vangelis, Balke mussten von Theresa ja gar nichts erfahren, fiel mir ein. Ich könnte ihnen erzählen, dass ich Durian treffen würde, sie könnten eine Ringfahndung aufbauen, das dauerte höchstens eine Viertelstunde, und dann kam keine Ratte mehr ungesehen aus der Stadt. Aber was, wenn Durian gar nicht vorhatte, Heidelberg zu verlassen? Was, wenn er Theresa erst später freilassen würde? Was, wenn sie fragten, wieso ich so irrsinnig war, mich freiwillig in seine Gewalt zu begeben? Unsinn, alles Unsinn. Ich wusste ja, welchen Rat sie mir geben würden. Und ebenso gut wusste ich, dass ich ihn nicht befolgen würde. Nicht befolgen konnte.
Ich nahm den kürzesten Weg, quer über den vollen Parkplatz vor dem Baumarkt, erreichte die Kurfürsten-Anlage. Noch sieben Minuten.
Ich würde es schaffen.
Ich musste es schaffen.
Um Zeit zu sparen, überquerte ich die vierspurige StraÃe in spitzem Winkel. Jemand hupte wütend und bremste scharf.
Ich sah nicht einmal hin, erreichte die gegenüberliegende Seite lebend. Noch vier Minuten. Ich musste es einfach schaffen. Der Regen wurde stärker, ich klappte den Schirm zusammen, um schneller zu sein. Warf ihn schlieÃlich ins Gestrüpp neben dem Gehweg.
Der Bismarckplatz, endlich, hell erleuchtet, noch zwei Minuten. Wieder hupte irgendein Idiot, dessen Familie gemütlich zu Hause im Warmen saÃ. Dessen Kinder jetzt Klavierstunden hatten oder Ballettunterricht. Dessen Leben auch heute so ordentlich und langweilig verlief wie an jedem anderen Tag.
Um sieben Minuten vor fünf stand ich atemlos und fast bis auf die Haut nass geregnet an der Haltestelle.
Ich fror, obwohl mir der Schweià den Rücken hinablief. Viele Menschen warteten wie ich. Die elektronische Anzeigetafel kündigte die Linie fünf in einer Minute an. Mit gesenkten Blicken standen die Menschen da, unter ihre Schirme geduckt, das elende Mistwetter ergeben erduldend.
Die Bahn kam. Quietschend und rumpelnd quälte sich der leuchtende Lindwurm um die Kurve. Hielt. Die Türen zischtenauf, zu allem Unglück war das blöde Ding proppenvoll. Rushhour, natürlich. Vermutlich gehörte auch das zu Durians Plan. Ich fand einen Stehplatz irgendwo in der Mitte, eingeklemmt zwischen missmutigen, schläfrigen, nach nasser Wolle und kaltem Schweià riechenden Mitmenschen, die heute nur noch ein Ziel hatten: nach Hause, ins Warme und Trockene.
Ein Ruck, wir fuhren. Augenblicke später schon die Neckarbrücke. Der an besseren Tagen sensationelle Blick auf das weltberühmte Schloss über der Altstadt. Festlich glitzernde Lichter über Wasser, dann Neuenheim, nächste Haltestelle, noch mehr Menschen. Wieder ein Ruck, Bimmeln, bald wieder ein Stopp, es wurde enger und enger. Manche schimpften auf das Wetter, die meisten schwiegen. Manche der Glücklichen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, lasen Bücher.
Ich weià nicht, wie oft die Bahn hielt, bis sie Heidelberg endlich hinter sich gelassen hatte. Dann ging es schneller voran. Dossenheim. Inzwischen stiegen bei jedem Halt mehr Menschen aus als ein. Allmählich gab es Platz, Luft.
»Wie gehtâs immer, Herr Gerlach?«, fragte jemand, der sich an derselben Stange festhielt wie ich. »Mal wieder auf Verbrecherjagd?«
»Was? Nein.«
Er war nicht Durian, eindeutig. Zu dick, zu klein.
Ich muss sehr erschrocken und ziemlich dumm ausgesehen haben.
»Guten Morgen!« Der auÃerordentlich dicke Mann mit rotem Kopf strahlte mich an. »Wusst ja gar nicht, dass man im Stehen so gut schlafen kann.«
Immer noch grinste er bis an die Ohren. »Sie sind doch der von der Kripo, stimmtâs? Hab Sie vor ein paar Wochen mal im Fernsehen gesehen. Als diese Geschichte mit dem kleinen Jungen gewesen ist.«
Ein Handy begann in der Nähe zu trillern. Erst nach Sekunden wurde mir bewusst, dass das Geräusch aus meiner Manteltasche
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