Eiskaltes Schweigen
brauche ich Ihnen nicht zu erklären, warum Sie hier sind und was Ihr Ziel ist.«
Im Licht der Scheinwerfer tauchte schon die Abzweigung zur Autobahn auf. Nirgendwo Polizei. Der Blinker begann zu ticken, die Ampel war und blieb grün, als gehörte selbst dieser Umstand zum Plan meines Mörders. Sie könnten auf der Autobahn einen Unfall simulieren, Durian zum Anhalten zwingen.
Aber Theresa â¦
Nein, keine Blaulichter, die StraÃe war so frei, wie sie am Abend eines Arbeitstages sein kann.
»Was ist denn mein Ziel?«, fragte ich. Reden. Bloà nicht schweigen. Schweigen war jetzt lebensgefährlich.
»Das andere Ufer des Styx.«
Hörte ich ein Lachen aus seiner Stimme?
»Der Fluss des Hasses.«
»Am anderen Ufer liegt das Reich der Toten. Charon wartet bereits auf Sie.«
»Werden Sie mir auch eine Münze unter die Zunge legen, wie es die Mythologie vorschreibt, als Lohn für den Fährmann?«
Sein überraschter Blick zu mir herüber war mir trotz der Dunkelheit nicht entgangen. Wir fuhren jetzt mit fast neunzig Stundenkilometern auf der A5. Mehr schien der klapprige Lieferwagennicht herzugeben. Es war ein Renault, erkannte ich an der Schrift am Armaturenbrett. Das Radio war womöglich noch älter als der Wagen selbst. Es hing halb lose im Schacht, als könnte es jeden Moment herausfallen.
»Sind Sie denn nicht schon unglücklich genug?«, fragte ich. »Haben Sie nicht schon genug angerichtet?«
Reden, reden, reden. Es hatte schon einmal funktioniert, vor neun Jahren.
»Unglücklicher als ich kann ein Mensch nicht sein«, erwiderte er ruhig. »Aber hier geht es nicht um Glück. Hier geht es um Gerechtigkeit.«
»Gerechtigkeit?« Um ein Haar hätte ich gelacht. »Sie wagen es, dieses Wort in den Mund zu nehmen? Nachdem Sie drei Menschen ermordet haben?«
Der Scheibenwischer quietschte und ratterte und schaffte es nicht, die Scheibe wirklich klar zu bekommen. Es schneenieselte immer noch.
»Michael Durian ist schon vor Jahren gestorben, kurz nachdem Sie ihn ins Gefängnis gebracht haben. Das Einzige, was verhindert, dass mein Körper vermodert, ist mein brennender Wunsch nach Gerechtigkeit.«
»Das passende Wort wäre hier wohl eher Rache.«
»Nein.« Heftiges Kopfschütteln. »Rache hat mit Hass zu tun. Ich hasse Sie nicht. Ich hasse niemanden. Ich finde jedoch, wenn Menschen anderen Menschen unrecht tun, Schuld auf sich laden, dann sollte dies wenigstens ab und an Folgen haben.«
Eine Weile schwiegen wir. Der Diesel brummte jetzt gemütlich, hatte die Schwerarbeit der Beschleunigung überstanden. Aus den Lüftungsschlitzen drang endlich warme Luft, die mir nach der Kälte guttat. Ein blaues Schild am StraÃenrand: Autobahnkreuz Heidelberg.
Wie unendlich weit entfernt das plötzlich war.
Ich musste etwas sagen.
»Niemand weiÃ, wo ich bin.« Meine Stimme klang schon wieder viel zu unsicher. »Ich habe mich exakt an jede Ihrer Anweisungen gehalten. Jetzt sind Sie am Zug.«
Im Licht der Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn sah ich ihn ein wenig lächeln. Aber er reagierte nicht.
»Wann werden Sie Frau Liebekind freilassen?«
Wieder keine Reaktion.
»Wie geht es jetzt weiter? Wollen wir die ganze Nacht spazieren fahren?«
»Sie werden beizeiten erfahren, wie es weitergeht.«
Seit einer Weile fuhr er in viel zu knappem Abstand hinter einem riesigen rumänischen Kühllastzug her, der uns fast vollständig einnebelte. Der Scheibenwischer lief auf höchster Stufe, bewirkte dennoch fast nichts. Vermutlich suchte er Deckung hinter diesem Ungetüm von Dreckschleuder.
Heidelberg blieb zurück, rechts die Hochhäuser Eppelheims, es ging weiter in Richtung Süden. Heidelberg, inzwischen und so überraschend schnell Heimat für mich geworden. Der Ort, wo ich zu Hause war, in Sicherheit. Seit ich in Durians Buch meinen Namen gelesen hatte, hatte das Wort Sicherheit einen fremden Klang für mich. Ein Wort, das man seit Ewigkeiten kennt und das einem mit einem Mal, vielleicht nachdem man es einige Male mit Bedacht ausgesprochen hat, fremd geworden ist.
»Sie müssen sie jetzt freilassen«, sagte ich eindringlich. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt.«
»Nur Geduld, Herr Gerlach«, wiederholte Durian kalt. »Ich musste in den vergangenen Jahren auch viel Geduld haben.« In der Kunstledersitzbank des Lieferwagens
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