Eiskaltes Schweigen
gefütterte Jacke von H&M. Am Boden des Schranks zwei Paar Schuhe mit halbhohen Absätzen sowie hohe schwarze Pumps. Auf einer ausgebreiteten Zeitung ein Paar warm gefütterte knöchelhohe Stiefel, die die Tote vermutlich in der Tatnacht getragen hatte. Rund um die Sohlen hatten sich auf dem welligen Papier eingetrocknete Wasserränder gebildet. Auf der Stange hingen noch ein paar Kleidchen und zwei Paar Jeans. In den Fächern ein wenig Wäsche und zwei schwarze Pullis. Nichts auÃer der Winterjacke wirkte billig, das ein oder andere Teil sogar kostbar. Schwarz war offenbar ihre Lieblingsfarbe gewesen.
Wandte man sich in Richtung Wohnraum, dann lief man schon gegen die verglaste Tür, die ihn vom Flur trennte. Auf Grund einer intellektuellen Fehlleistung des Architekten oder Schlamperei des Schreiners öffnete sie sich nach auÃen, in den ohnehin engen Flur, und nicht nach innen, wo reichlich Platz gewesen wäre. Wäre es anders gewesen, dann wäre Anita Bovary vielleicht noch am Leben. So aber hatte sie sich nach zwei, drei erschrockenen, stolpernden Schritten rückwärts den Fluchtweg versperrt.
Mit der geschlossenen Zimmertür im Rücken war Anita Bovary zusammengebrochen, bewusstlos im Schock des plötzlich abfallenden Blutdrucks. Am Boden liegend, war sie dann innerhalb weniger Minuten verblutet.
Ich schaltete das Licht wieder aus und ging in den Wohnraum zurück.
Nach dem tödlichen Stich hatte der Täter vermutlich die Tür zum Wohnraum geöffnet, was gegen den Widerstand des davor liegenden Körpers nicht leicht gewesen sein dürfte. Wozu hatte er das getan? Wollte er etwas holen? Seine rund um das Bett verstreute Kleidung vielleicht? Oder nur die Handtasche des Opfers?
In diesem Moment wurde mir ein entscheidender Fehler in unseren bisherigen Ãberlegungen bewusst: Wenn der Mann, mit dem Anita Bovary die Nacht verbracht hatte, der Täter war, warum hatte er sie dann im Flur erstochen und nicht zum Beispiel auf dem Bett? Und woher hatte er das Messer gehabt? Mitgebracht? Aus der Miniküche, die zur Wohnung gehörte? Hatte es Streit gegeben, er war fortgerannt, nach zehn Minuten mit dem Messer in der Hand zurückgekehrt?
Noch einmal und jetzt genauer sah ich mich im Wohnraum um, blickte sogar unters Bett, kramte in den Schubladen der minimalistischen Kochnische, betrachtete eine einsame Putzmittelflasche unter der Spüle, einen Schwamm neben dem hin und wieder tropfenden Wasserhahn, zwei Töpfe und eine verbeulte Teflonpfanne im Wandschrank sowie ein bisschen Geschirr. Im zweiten Hängeschrank befanden sich ein paar Fertiggerichte sowie vier Weingläser, Pressglas aus dem Supermarkt, und zwei Dreiviertelliterflaschen Chianti, Preisklassezweineunundneunzig, vermutlich aus derselben Quelle. Zwei weitere Gläser standen in der Spüle. In eines davon fielen regelmäÃig Tropfen aus dem undichten Hahn.
Der schmale Kühlschrank summte gleichmütig vor sich hin und schepperte alle paar Minuten leise, wenn er sich für kurze Zeit ausschaltete. In seinen Fächern herrschte die übliche Leere eines Singlekühlschranks. Die wenigsten Menschen kochen gerne für sich allein, und Anita Bovary war in diesem Punkt offensichtlich keine Ausnahme gewesen. Kalorienreduzierte Margarine, auf deren Deckel glückliche, schlanke Menschen mit weiÃen Zähnen in die Sonne lachten, ein noch unangebrochenes Glas Marmelade mit SüÃstoff, eine halb volle Flasche WeiÃwein, Pinot Grigio von überraschend guter Qualität, zwei verschrumpelte Ãpfel. Ich schloss den Kühlschrank wieder.
Die Weingläser in der Spüle waren benutzt, an einem klebte ein wenig Lippenstift.
Evalina Krauss hatte recht: Alles hier wirkte provisorisch, unpersönlich, auf Zeit.
Vor wem hast du dich versteckt, Anita Bovary?
Vor wem sollten deine zusätzlichen Schlösser dich beschützen?
Trotz der Kälte trat ich hinaus auf den badetuchgroÃen Balkon. Hier gab es nicht viel zu entdecken. Ein erbärmlich verrosteter, ehemals weià lackierter Stuhl, der vermutlich schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. Ein Blumentopf mit einem verdorrten Strunk in der Mitte, daneben ein blaues Blecheimerchen, halbvoll mit Sand, und eine groÃe Tüte Papageienfutter.
Richtig, der verschwundene Vogel.
Inzwischen war es innen so weit abgekühlt, dass man es aushalten konnte. Es klopfte an der Wohnungstür. Ich öffnete. Vor mir
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