Eismond: Ein Kimmo-Joentaa-Roman (German Edition)
dass der Mann weinte.
Er schloss die Augen und inhalierte die Macht.
Er löste sich aus dem Dunkel und trat an das Treppengeländer. Nach einigen Minuten erhob sich der Mann mühsam und verschwand im Schlafzimmer, ohne sich zu waschen.
Vesa blieb eine Weile an der obersten Stufe stehen.
Dann ging er nach unten, in die Küche.
In der Küche brannte Licht. Der Becher, aus dem Margit getrunken hatte, lag noch auf dem Boden. Er nahm ihn und setzte sich an den Tisch.
Er goss Milch in den Becher.
Durch die Scheibe des Fensters sah er sein Spiegelbild und erahnte die Konturen der Straße und des Nachbarhauses.
Er zitterte, als er den Becher zum Mund führte. Er trank.
Er schloss die Augen und wartete, bis sich seine Gedanken drehten, bis sie sich im schnellen Fluss auflösten und ihm schwindlig wurde.
Er stand auf und ging nach oben.
Er ging langsam, aber er blieb nicht stehen.
Er öffnete die Tür und betrat das Zimmer, das sehr warm war und im Dunkel lag.
Sie schlief.
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich an ihr Bett.
Er sah sie atmen.
Er nahm das Mittel aus der Jackentasche und betäubte sie. Er hatte nur ganz wenig von der Flüssigkeit auf das Tuch geträufelt, das würde reichen, und es war besser so. Margit sollte gar nichts merken.
Er zitterte.
Er setzte sich wieder und wartete, bis die Erregung nachließ.
Er wartete, bis der gelb und rot flackernde Mond das ganze Bild ausfüllte.
Er stand auf, zog das Kissen unter ihrem Kopf hervor und presste es auf ihr Gesicht.
Er schloss die Augen und sah Jaana.
Jaana stand im Dunkel.
Jaana schrie.
Jaana schrie, er solle aufhören.
Jaana schrie, bis er lachte und in seinem Kopf der Mond explodierte.
Er ließ das Kissen los.
Er sah auf das Mädchen hinab, hob das Kissen von ihrem Gesicht und sah ihre geschlossenen Augen.
Er nahm ihren schlaffen Körper und zog ihn auf den Boden. Er trat gegen ihren Rücken, gegen ihre Beine. Er kniete sich über sie und küsste ihren Mund.
Dann rannte er.
Auf der Treppe rutschte er aus. Er spürte einen dumpfen Schmerz in seinen Beinen und hörte Stimmen in seinem Rücken.
Er sah sich nicht um, bis er im Wagen saß.
Er fuhr dem Schrei entgegen, der immer lauter wurde.
Er wusste nicht, wie lange er fuhr, er fuhr, bis er da war.
Das Haus sah auch im Dunkel so aus, wie sie es beschrieben und wie er es auf einem Bild gemalt hatte.
Er hämmerte gegen die Tür, bis Lichter angingen und Fenster geöffnet wurden. Er hörte mehrere Stimmen, und eine kannte er.
»Komm«, sagte Jaana und zog ihn ins Warme.
Sie kochte Tee und umarmte ihn.
Sie fragte nicht, warum er gekommen sei.
Sie fragte gar nichts.
Er erzählte ihr von einem alten Mann, der gehen konnte, nachdem er jahrelang im Rollstuhl gesessen hatte.
15
Jaana Ilander dachte, dass es natürlich nicht normal war.
Natürlich war es nicht normal, dass nachts um vier Uhr ein verstörter Mensch an ihrem Küchentisch saß und mit gesenktem Kopf sein Leben erzählte.
Natürlich hatte Kati recht, wenn sie sagte, dass diese Dinge immer nur ihr passierten, und natürlich war sie selbst daran schuld, denn wäre Kati an jenem Morgen am Strand zu dem Jungen gegangen und nicht sie, dann säße dieser Junge jetzt bei Kati, nicht bei ihr.
Jaana goss Tee in einen Becher und beobachtete aus den Augenwinkeln den Jungen, der langsam den Blick hob, als sie den Becher vor ihn auf den Tisch stellte.
Er lächelte und bedankte sich, und sie erwiderte das Lächeln.
Sie war froh, dass er da war. Sie mochte ihn. Sie mochte, dass er anders war, geheimnisvoll. Dieses Geheimnisvolle war es gewesen, was sie zum ihm hingezogen hatte.
Eine Weile hatte er beharrlich geschwiegen, aber dann erzählte er, hektisch, rastlos. Er erzählte von einem Mann, der gehen konnte, nachdem er lange im Rollstuhl gesessen hatte. Er erzählte von Tommy, seinem Bruder. Er erzählte, dass seine Eltern bei einem Unfall gestorben waren, als er klein war. Er erzählte, dass er mit Tommy in einem Heim gelebt habe.
Jaana saß ihm gegenüber und hörte aufmerksam zu. Sie unterbrach ihn nicht, sie unterbrach nie, wenn Menschen ihr etwas erzählten. Nur wer zuhören konnte, erfuhr etwas, und Jaana wollte immer alles wissen, vor allem über Menschen, die sie nicht begriff.
Alles, was Vesa erzählte, brachte sie dem näher, was sie erahnt hatte, als sie am Strand auf ihn zugegangen war. Sie hatte es nicht greifen können, sie konnte es noch immer nicht greifen, aber etwas lag hinter seinem starren Blick, hinter
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