Eismord
erinnern mich an einen Totempfahl, wenn Sie so dastehen.«
Jerry zog Cardinals Stuhl herüber und setzte sich. Er öffnete den Reißverschluss seines Parkas. »Kennen Sie einen Mann namens Henry Whiteside?«
Delorme schüttelte den Kopf. »Aus dem Reservat?«
»Nicht so ganz. Er wurde vor ein paar Jahren rausgeworfen. Sie müssen ihn auf der Straße gesehen haben. Er hat gewöhnlich vor dem Country Style oberhalb von Algonquin gebettelt.«
»Ach der? Oh, Mann, der war übel dran. Den hab ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich dachte, er wäre tot.«
»Sie würden ihn nicht wiedererkennen. Henry hat sich vor ein paar Jahren in den Griff bekommen; ganz neuer Mensch. Hat das Twelve-Step-Programm mitgemacht, wieder einen klaren Kopf bekommen und in Rona sogar einen Job gekriegt – er ist ein ziemlich guter Schreiner, wenn er nüchtern ist. Hat zum ersten Mal seit zehn Jahren gesund ausgesehen.«
»Sie haben recht – ich hätte ihn nicht wiedererkannt.«
»Jedenfalls hat Henry eine Cousine, die immer noch im Reservat lebt, und die behauptet, er wäre verschwunden. Er hatte ein kleines Zimmer hier in der Stadt und hat – jedenfalls für seine Verhältnisse – ein geordnetes Leben geführt. Er ist also seit ein paar Monaten in Rona, und dann erscheint er eines Tages einfach nicht zur Arbeit. Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, ihn als vermisst zu melden – dachten wohl eher, er wäre dem Ruf der Wildnis gefolgt oder dem Ruf der Flasche. Er hatte noch nicht lange genug dort gelebt, um engere Freunde zu haben, die auch mal nach ihm sehen würden. Deshalb hat seine Cousine erst neulich, als sie mal vorbeischauen wollte, gemerkt, dass er ausgezogen war. Die Miete war bezahlt, doch von einem auf den anderen Tag war er verschwunden.«
»Und wann ist das passiert?«
»Sie hat am ersten Dezember nach ihm gesehen, aber er könnte ’ne ganze Weile früher weggegangen sein. Sie sagt, er hätte was von einem Jobangebot irgendwo draußen in der Wildnis erzählt – nur so als Mädchen für alles, aber sie meinte, es hätte irgendeine Verbindung zur Pelzindustrie gegeben. Ich dachte, mit dem Fall Bastov und so, könnt ihr euch mal ein bisschen umhören und die Augen offen halten?«
Delorme schrieb eine Notiz auf ihrem Block zu Ende. Dann drehte sie sich wieder zu Jerry um. »Sie wissen schon, dass ich ihn mit dem, was ich habe, nicht als vermisst melden kann, oder? Liegt einfach zu nahe, dass er nur auf Sauftour ist. Da schickt keiner einen Suchtrupp raus.«
»Ich weiß. Ich wollte nur, dass ihr davon wisst.«
»Also gut, ich sag den anderen bei der morgendlichen Besprechung, dass sie die Augen offen halten sollen.«
»Danke, Lise.« Jerry stand auf und zog den Parka zu. »Ist nur so, dass ich mich mit trocken gewordenen Alkoholikern ganz gut auskenne. Man bekommt ein Gefühl dafür, wer es schafft und wer nicht.«
»Und Sie hatten den Eindruck, Henry schafft es.«
»Hundert Pro. Wenn er natürlich auf einmal tiefgefroren mit einer leeren Dose Sterno irgendwo auftaucht, muss ich mein Messgerät für Trockenlegung adjustieren.«
Als Jerry gegangen war, schrieb Delorme in Großbuchstaben HENRY WHITESIDE auf den größten Post-it-Zettel, den sie finden konnte, und heftete ihn an die Korkwand über ihrem Schreibtisch. Dann klappte sie ihr Handy auf, öffnete das Schnellwahl-Menü und löschte Shane.
Cardinal fuhr an diesem Abend niedergeschlagen und frustriert nach Hause. Sie hatten so viele Hinweise – die Reifen, das Autofabrikat, die Schuhabdrücke, die Projektile, das Parkhausvideo –, und dennoch schienen sie sich an der Peripherie des Falls im Kreis zu drehen, statt zum Kern der Fakten vorzudringen. Und dann noch die New Yorker Fälle, die Mendelsohn mitgebracht hatte – mit ihren unübersehbaren Ähnlichkeiten, ohne dass sie bis jetzt jedoch eine Verbindung herstellen konnten. Er öffnete die Parkgarage mit seiner Fernbedienung und fuhr die Rampe hinunter.
Es war noch dunkler als sonst, und an Cardinals Parkplatz gab es fast gar kein Licht. Jeden Tag schien es irgendein neues Problem mit diesem sogenannten Luxus-Apartment-Gebäude zu geben, und wie fast jeden Tag dachte Cardinal auch heute wieder, dass es ein Fehler gewesen war, sein Haus zu verkaufen. Er stieg aus, schloss den Wagen ab und lief Richtung Fahrstuhl. Er hatte schon den Schlüssel zum Vorraum des Fahrstuhls gezückt, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er wirbelte herum und hatte im selben Moment die entsicherte Beretta
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