Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
Gesellschaft leisten, weil du dich doch mal wieder um deine kleine Schwester kümmern musstest«, fügt Sonja Kessler an.
Zoe holt sich eine Flasche Sprudel aus dem Kühlschrank. »Muss wohl irgendwie ein Missverständnis gewesen sein.« Sie hört selber, wie schwach das klingt.
»Warum lügst du deine Freundinnen an? Wo warst du?« Der Ton der Mutter wird kühler. Anklagender.
»Ich hatte einfach keine Lust auf Shoppen. Ist das schlimm oder was?«
»Nein. Gar nicht. Schlimm finde ich, dass du deine Freundinnen anlügst und dich hinter deiner kleinen Schwester versteckst.«
»Ich verstecke mich hinter Franziska? Das ist wohl das Letzte. Ich kann mich seit Jahren nicht verstecken. Jeden Tag muss ich es doch sehen. Du wunderst dich, dass ich lüge? Komisch. Ich habe doch schon viel schlimmere Dinge getan. Dagegen ist eine kleine Lüge doch ein Kinderpups.«
Ihre Mutter sieht sie überrascht, verwundert an. Sie versteht Zoe nicht. Sie weiß nicht, wovon ihre Tochter redet. »Was meinst du mit schlimmeren Dingen?«
»Das weißt du doch genau. Aber darüber wird hier ja nicht gesprochen. Kein einziges Wort in all den Jahren. Das ist fast noch gemeiner als der offene Vorwurf. Diese vielen unausgesprochenen Sätze geistern hier durchs Haus, durch mich durch. Kannst du dir vorstellen, dass sie mich zerfressen wie Maden?«
Zoe rauscht raus. Sonja Kessler sieht ihr hinterher. Sie hatte gehofft, dass Zoe die Pubertät irgendwie auslässt, einfach überspringt. Nun glaubt sie, dass das wohl nicht der Fall ist.
Von Lilly hat Zoe schon eine wütende SMS auf dem Handy. Von Saskia kommt nichts. Sie schreibt Lilly schnell zurück. Dass sie mies drauf gewesen wäre, den Freundinnen nicht den Spaß verderben wollte. Saskia wird nicht so schnell zu besänftigen sein. Die ist sensibler. Sie wartet bis die Freundin am Abend im Chat auftaucht.
He, Süße. Sorry für heute Nachmittag. Aber du warst neulich so traurig wegen deiner Figur. Hast dich geärgert, dass ich kleinere Größen trage, da dachte ich, du hast mehr Spaß, wenn du ohne mich Klamotten kaufst. Deswegen habe ich zu der kleinen Notlüge gegriffen. Ich wollte dir eigentlich was Gutes. :-)
Zoe wartet. Sie kann fast spüren, wie Saskia die Worte abwägt, überlegt, ob sie Zoe glauben soll. Sie tut es.
Du bist so süß! Habe mir eine tolle Jeans gekauft. Zieh ich morgen an – erscheint schließlich auf dem Monitor.
Freu mich, schließt Zoe und kann sich endlich diesem Gefühl wieder hingeben. Carls Finger auf ihrem Arm, den Geschmack der süßen Trauben im Mund. Die Sonne auf dem Gesicht. Sie versucht, es immer wieder nachzufühlen, bis die Erinnerungen an diesen einen Moment schon ganz wund sind.
»Sie sieht echt super aus.«
Zoe hätte das in jedem Fall gesagt, aber die Jeans von Saskia ist echt okay. Weit geschnitten. Eine kluge Entscheidung. Nur mit Mühe kann Zoe dem Unterricht folgen. Immer wieder gehen die Gedanken einen Tag zurück oder ihre Blicke Richtung Carl. Der tut erst gar nicht so, als ob er es nicht bemerken würde. Er guckt ganz gerade, fast provokant zurück. Zoe flieht fast nach Hause. Als ihre Mutter mit der großen Reisetasche aus dem Keller kommt, fällt es ihr ein. Sie hatte es echt vergessen. Am Donnerstag und Freitag sind ihre Eltern mit Franzi in Hamburg. Weitere Untersuchungen sollen zeigen, ob nicht eine andere Therapie geeignet ist. Sonja Kessler fängt Zoes Blick auf.
»Willst du wirklich nicht am Donnerstag bei Kim oder Saskia schlafen?«
»Warum?«
»Ich habe irgendwie kein gutes Gefühl, wenn du hier alleine bist.«
»Mama, das haben wir doch besprochen. Ich habe Donnerstag Schule, am Freitag Schule, am Donnerstagnachmittag werde ich mir Heroin spritzen, dann komme ich abends nicht auf dumme Gedanken.«
Ihre Mutter lächelt schief.
»Mama, ihr habt gesagt, dass ihr mir vertraut.«
»Da hattest du auch noch nicht gelogen.«
»Du willst mich hier nicht alleine lassen, weil ich nicht mit meinen Freundinnen Esprit oder H&M gestürmt habe? Das ist nicht dein Ernst, oder?«
»Du weißt genau, dass es darum nicht geht.«
»Es geht darum, dass ich nicht wie ein kleines Kind behandelt werden möchte.«
Sonja Kessler hat kein gutes Gefühl, als sie sich mit Tochter und Mann am frühen Donnerstagmorgen ins Auto setzt. Am liebsten würde sie Zoe mitnehmen. Am liebsten würde sie gar nicht fahren müssen, am liebsten hätte sie nämlich zwei gesunde Töchter. Aber diesen Gedanken traut sie sich nicht zu denken. Eigentlich hätte sie
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