Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
Was, wenn er das Seil nicht wirklich hält? Sie nimmt die gleiche Route nach unten, die sie hochgestiegen ist.
»Vertraust du mir nicht?«, lacht Carl nur.
»Ich vertraue niemandem außer mir«, sagt Zoe ernst.
»Das ist eine weise Entscheidung. Versuch jetzt mal die braune Route.«
Zoe merkt gleich, dass sie an ihre Grenzen stößt. Die Griffe und Tritte sind klein und in großem Abstand in die Wand geschraubt. Sie spürt, wie ihre Arme anfangen zu zittern. Selbst, wenn sie es bis nach oben schafft – schafft sie es auch wieder runter? Sie guckt nach unten, guckt Carl in die Augen. Die Spannung zwischen ihnen vibriert in der Luft. Gedanken jagen durch ihren Kopf. Würde er sie wirklich fallen lassen? Was hätte er davon? Will er den Triumph, dass sie ihm vertrauen muss? Dass sie von ihm abhängig ist? Sie ist es doch längst. Auch ihre Oberschenkel zittern nun, sie versucht gleichmäßig zu atmen. Es ist nicht die Anstrengung, die in ihren Muskeln brennt. Kurzfristig wechselt sie auf die grüne Route. Blitzschnell ist sie oben und beginnt mit dem Abstieg. Erst auf halbem Weg wechselt sie wieder die Farbe der Griffe.
Carl guckt sie fragend an, als sie verschwitzt wieder neben ihm steht.
»Ich lasse mir einfach ungern den Weg vorschreiben«, sagt Zoe nur und geht Richtung Umkleidekabine.
Er kommentiert es nicht. Mit keinem Wort.
Sie hatte eine viertel oder halbe Sekunde darüber nachgedacht. Hatte für den Hauch eines Moments gedanklich gecheckt, wie hoch die Gefahr ist, Lilly und Saskia über den Weg zu laufen. Doch die Versuchung ist zu groß. Zum ersten Mal hat Carl sie gefragt, ob sie noch etwas zusammen trinken wollen. Die Stadt ist groß. Die Wahrscheinlichkeit, den Freundinnen zu begegnen, ist einfach winzig. Ihr Bauchgefühl behauptet das zumindest. Sie nickt also und geht stumm neben Carl her. Er geht in den nächsten Supermarkt, bleibt vor den Getränken stehen.
»Was willst du?«
Zoe schluckt. Wie hatte sie annehmen können, Carl würde mit ihr in ein Café oder ähnliches gehen? Sie entscheidet sich für einen Eiskaffee. Auf dem Weg zur Kasse stoppt Carl plötzlich. »Warte hier.«
Als er zurückkommt hat er tatsächlich eine Tüte mit Weintrauben, ein Baguette und eine Packung Käsewürfel in der Hand. Sie folgt ihm einfach stumm. Er geht quer durch den Stadtpark, öffnet ein kleines schwarzes Tor.
»Das ist ein Friedhof«, sagt Zoe entsetzt.
»Und? Das ist ein alter jüdischer Friedhof. Hier wird niemand mehr beerdigt, wir werden also kaum stören. Oder ist dir das zu gruselig?«
»Ist es mit dir nicht überall ein bisschen gruselig?«
»Du meinst, du bekommst eine Gänsehaut, wenn du mich siehst?«
Zoe wird rot, bückt sich blitzschnell zu ihrem Schuh, bindet ihn neu, damit er es nicht sieht. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, ihren Freundinnen über den Weg zu laufen, auf null gesunken. Sie lässt sich neben Carl auf eine Bank fallen, schlürft ihren kalten Kaffee. Es geht eine merkwürdige Ruhe von dem Ort aus. Schweigend essen sie die Trauben, die Käsewürfel, brechen sich abwechselnd Brot ab. Sie achtet sorgfältig darauf, dass ihre Hände sich nicht aus Versehen berühren, Carl bemerkt es. Er weiß auch, man meidet nur, was man fürchtet. Als Zoe irgendwann entspannt die Augen schließt, das Gesicht in die Sonne hält, fährt er ganz sacht mit seinem Finger über ihren nackten Oberarm. Sie zuckt, öffnet aber nicht die Augen, nimmt den Arm nicht weg. Er fährt mit dem Finger leicht über die Armbeuge bis zum Handgelenk. Wenn er jetzt die Handinnenfläche berührt hätte, wäre es billig geworden. Aber dazu ist er zu schlau. Er nimmt die Hand einfach weg. Zoe könnte die Spur der Berührung nachzeichnen. Sie fühlt noch den Weg des Fingers auf der Haut. Sie fand es zart und kühl. Ein stummes Wort zwischen ihnen. Sie hält die Augen geschlossen, fühlt diesem Moment nach. Und ganz plötzlich wünscht sie sich, Carl würde seine Hand auf ihre Augen legen. Sie könnte sich verstecken unter seiner großen Hand. Die Hand würde sie beschützen. Schnell macht sie die Augen auf. »Ich muss los.«
Carl nickt, wirft eine Traube hoch, fängt sie mit dem Mund. »Bis morgen«, sagt er und zerbeißt sie.
Zoe ist wie berauscht. Als hätte jemand einen Wasserwerfer in ihren Kopf gehalten. Alle Gedanken und Gefühle wirbeln umher. Die innere Ordnung ist zerstört.
»Saskia und Lilly waren hier.« Ihre Mutter guckt sie nach der Mitteilung auffordernd an. Zoe sagt nichts.
»Sie wollten dir
Weitere Kostenlose Bücher