Eistochter
wehtun hineinzuspringen. Um das auszuprobieren, hebe ich mein nutzloses Armband hoch und schleudere es in die Schneewehe. Es versinkt. Also nicht gefroren.
Ohne jegliche Sentimentalität schenke ich unserem Zimmer einen letzten Blick und springe dann aus dem Fenster. Der Schnee federt meinen Sturz gut ab. Ich klettere aus dem Haufen hervor und klopfe mich ab, damit auch ja kein Schnee an mir haften bleibt. Das Letzte, was ich brauchen kann, ist, in nassen Kleidern herumzulaufen.
Ohne mich noch einmal umzusehen, breche ich die Straße entlang auf.
9
Sobald ich um die Ecke meines Blocks herum bin, laufe ich langsamer, weil ich weiß, dass Bethina mich jetzt nicht mehr sehen kann. Beiderseits des verlassenen Wegs wirken hoch aufgetürmte Schneemassen wie ein halb fertiggestellter Tunnel und tragen zu meinem Gefühl bei, verborgen zu sein. Ich bin ganz allein – bei solchem Wetter wagt sich niemand freiwillig nach draußen.
Ich renne den Pfad entlang, werfe ständig Blicke über die Schulter und starre in die langen Schatten, die von der diesigen Sonne geworfen werden. Im Augenblick weiß ich nicht, wovor ich mehr Angst habe: davor, dass Bethina mich findet, oder vor den Empfindsamen.
Am Rande des Schulgeländes, wo die Barrikade den Campus von der Stadt trennt, weichen die sanften weißen Hügel eindrucksvollen Herrenhäusern, die dicht nebeneinanderstehen. Einige der höchstrangigen Staatsfunktionäre – wie meine Mutter – wohnen hier.
Seltsamerweise tut nur ein einziger Wächter Dienst, und er geht die Barrikade so ab, dass er mir den Rücken zugewandt hält.
Ich starre auf die stille Stadt hinaus. Ich muss nach draußen und zum Bahnhof. Aber wenn ich durchs Tor gehe, wird dann der Alarm ausgelöst?
Nur mit den Fingerspitzen berühre ich die Barrikade. Ihre feste, unnachgiebige Oberfläche verhilft mir nicht zu den Antworten, die ich suche. Der Torbogen überspannt eine zweispurige Straße. Obwohl es keine privaten Fahrzeuge mehr gibt, nutzt der Staat noch Straßen und Transportwege, um Waren durch die Gesellschaft zu befördern.
Mein Blick huscht dorthin zurück, wo eben noch der Wächter gestanden hat. Er ist nicht mehr da. Ich drehe den Kopf wild hin und her, um nach ihm Ausschau zu halten, aber ich sehe nichts bis auf die Barrikade, die schneebedeckten Hügel und die Häuser auf der Stadtseite.
Triff eine Entscheidung, Lark. Tu es oder tu es nicht.
Tu es. Die Nackenhaare stellen sich mir auf, als ich durchs Tor gehe. Kein Alarm ertönt, und der Wächter lässt sich nicht blicken. Gut zu wissen, dass er alles so hervorragend im Griff hat!
Ich gehe schnell den Bürgersteig entlang, am großen Haus meiner Mutter vorbei. Wie immer herrscht hinter den dicken Glasfenstern rege Geschäftigkeit. Als wir noch Kinder waren, haben Beck und ich uns immer hinausgeschlichen und durch die durchsichtige Barrikade die Parade von Menschen beobachtet, die sich von einer Veranstaltung zur nächsten bewegten. Die Abende waren eine endlose Party mit meiner Mutter als Gastgeberin, immer lachend und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie wirkte stets glamourös, mächtig, schön – alles, was ich später einmal zu sein hoffte.
Irgendwo draußen in der Bucht brüllt ein Nebelhorn seine Warnung und erinnert mich daran, dass es Zeit wird zu gehen. Wenn ich zu lange zögere, werde ich vielleicht noch ertappt.
Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es nichts, was mich beschützt. Ich habe immer hinter der Barrikade gelebt und sie nur in Begleitung verlassen. Hier draußen, allein, bin ich völlig schutzlos. Und völlig fehl am Platz.
Die Nervosität zwingt mich, die nächsten zwölf Blocks eilig hinter mich zu bringen. Die Stadtlandschaft ändert sich dramatisch, als ich das Geschäftsviertel betrete. Die herrschaftlichen Häuser der Würdenträger machen schlagartig mehrstöckigen Gebäuden Platz, die hoch in den Himmel ragen, der zwischen ihnen kaum noch zu sehen ist. Ich habe Glück gehabt – die wenigen Leute, denen ich begegnet bin, waren entweder zu sehr in Eile, um mich zu bemerken, oder ganz mit ihren Armbändern beschäftigt.
Ich bleibe an einer Ecke stehen und denke darüber nach, welche Route wohl die beste ist. Ich kenne mich in der Stadt nicht aus, aber ich weiß, wie ich zum Bahnhof komme, weil ich mindestens einmal pro Jahr zum Haus von Becks Eltern oder auf Mutters Landsitz gefahren bin. Der Bahnhof liegt auf der anderen Seite der Stadt, und wenn ich die ganze Strecke zu Fuß gehe, dauert das bei Schnee und
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