Eistochter
oder, schlimmer noch, die wahren Empfindsamen – hereinstürmen zu sehen, und so klemme ich meinen Schreibtischstuhl unter die Türklinke.
Und dann sinke ich von Schluchzern geschüttelt zu Boden.
Wie konnte heute nur so schnell alles schiefgehen?
Sekunden vergehen, dann Minuten, dann eine Stunde. Gerade als ich denke, dass meine Tränen versiegt sind, kehrt die Erinnerung daran zurück, wie Becks weiche Lippen meine gestreift haben und wie er mich gebeten hat zu schwänzen und ich nein gesagt habe. Wenn ich mitgegangen wäre, wäre er vielleicht noch hier – oder auch mir würde jetzt ein Leben als angeklagte Empfindsame bevorstehen, ohne jede Hoffnung auf eine echte Zukunft.
Oh Gott. Was, wenn sie ihm den Prozess machen? Was, wenn ich gezwungen bin zuzusehen, wie Beck durch die Straßen geführt, diffamiert und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird? Oder schlimmer noch – zum Tode, wenn der Staat zu dem Schluss kommt, dass Beck aktiv seine Stabilität zu untergraben versucht hat?
Ich reibe mir das Gesicht mit den Händen und bohre die Finger in den Nasenrücken. Das kann doch alles nicht wahr sein!
»Lark? Brauchst du irgendetwas?« Bethina klopft leise an die Tür, versucht aber nicht hereinzukommen.
Meine wunde Kehle brennt, als ich spreche. »Lass mich in Ruhe.«
Ihre Schritte verklingen, als sie davongeht. Das trübe Nachmittagslicht dringt durchs Fenster. Es ist erst zwei Stunden her, dass ich zu Hause angekommen bin, aber fast drei Stunden, seit ich Beck zuletzt gesehen habe. Wenn ich darauf bestanden hätte, dass er mit mir spricht und mir erzählt, was ihm solche Angst macht, wäre das vielleicht nicht passiert. Möglicherweise hätte er es mir aber auch erzählt, wenn ich mich ihm nicht immer wieder entzogen hätte.
Ich schüttle den Kopf. Nein, so darf ich nicht denken. Ich muss in die Zukunft schauen, denn an dem, was schon geschehen ist, kann ich nichts ändern.
Ich rolle mich eng zusammen. Mein Atem geht immer noch in unregelmäßigen Zügen. Mein Haar hat sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und hängt mir verfilzt um die Schultern. Mein Zimmer, unser Zimmer, ist seltsamerweise so wie immer. Alles, was ich sehe, ist Beck, wohin ich auch schaue. Ich schlinge die Arme noch enger um mich, kneife die Augen zu und hoffe, dass Beck vor mir stehen wird, wenn ich sie wieder öffne: Vielleicht zieht er die Augenbrauen hoch oder liegt lesend auf seinem Bett.
Stattdessen sind nur Becks Habseligkeiten hier und warten darauf, dass er zurückkommt. Die Kleider, die er gestern getragen hat, liegen noch immer in der Ecke, sein Schreibtisch ist mit Schularbeiten übersät. Ich kann ihn überall sehen, aber er ist nicht mehr da. Er kommt nicht zurück. Angeklagt.
Sie haben ihn noch nicht einmal seine Sachen mitnehmen lassen.
»Beck«, flüstere ich. »Was hast du getan?«
Meine Finger schlingen sich um meine Vogelkette, streicheln den Anhänger, als ob seine patinierte Oberfläche mir meine Fragen beantworten könnte. Bethina ist verrückt, wenn sie glaubt, dass ich ihn ihr geben werde – im Moment ist er alles, was ich von Beck noch habe.
Meine Beine sind eingeschlafen, und ich stemme mich in der Hoffnung vom Boden hoch, dass das Aufstehen das Ameisenkribbeln zum Erliegen bringen wird. Es sticht und tut weh. Als ich mir mit den Händen über die Beine streiche, auf sie klopfe und versuche, sie aufzuwecken, fällt mein Blick auf mein blaues Armband. Die Ortungsfunktion ist kaputt, aber vielleicht funktioniert das Anrufen ja noch. Ein Funken Hoffnung flackert in mir auf.
Ich tippe auf mein Armband und sage: »Beck.«
Mir stockt der Atem, als ich auf seine Antwort warte.
Es klingelt zwei Mal – »Es tut uns leid, die Person, die Sie kontaktiert haben, existiert nicht.«
»Existiert nicht?« Wie kann Beck nicht existieren? Natürlich existiert er!
Ich reiße mir das Armband ab und schleudere es gegen das Fenster. Der Aufprall hinterlässt einen Riss im Glas, und das Armband fällt zu Boden. Das dumme Ding ist nutzlos, also lasse ich es dort liegen. Wen soll ich auch schon kontaktieren? Beck ist nicht mehr da, und Kyra ist wahrscheinlich bei ihm.
»Verdammt!«, schreie ich noch lauter, und es ist mir gleichgültig, ob irgendjemand mich hört.
Ich reiße die oberste Schublade von Becks Kommode auf und werfe seine Kleidung auf den Boden. Dann tue ich dasselbe mit der nächsten Schublade, und mit der übernächsten, bis all seine Kleider auf dem Boden verstreut liegen.
Ich packe eine
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