Eistochter
Handvoll Hemden, rolle sie zu einem Ball und bewerfe das hilflose Armband. Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Ich war mir so sicher, dass er abnehmen würde!
Ein einsames T-Shirt liegt zu meinen Füßen. Ich bücke mich, um es aufzuheben, und presse mir den sauberen Stoff ans Gesicht. Ich atme ein und hoffe, etwas von Becks Geist zu finden, aber da ist nichts. Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf, und es reicht mir bis zu den Knien, wie ein Nachthemd.
Schlafen klingt gut. Wenn ich schlafe, kann ich das alles vielleicht für eine Weile vergessen. Ich schüttle die Schuhe ab, schlage Becks Bettdecke zurück und lege mich hin.
Aber ich kann einfach nicht still liegen bleiben, wenn mein Herz rast und mein Magen rebelliert. Ich starre die Decke an. Beck und ich haben immer hier gelegen, wenn ich nicht schlafen konnte, und Muster in den Rissen gesucht, die den Putz durchziehen. Er hat meinen Kopf in seiner Armbeuge gewiegt und mich festgehalten, bis ich eingeschlafen bin.
Meine Augen suchen die Decke ab, bis mein Blick an meiner Lieblingsform hängen bleibt – einer verschneiten Kiefer. Gleich daneben ist Becks Libelle.
Summer Hill. Die Erinnerung an Becks Stimme spricht den Namen immer wieder aus, jedes Mal etwas lauter, und fordert, dass ich auf sie höre.
Ich weiß, was ich zu tun habe.
Mit einem leisen Plumpsen lande ich auf dem Boden. Ich strecke mich flach aus, krieche unter das Bett bis fast an die Wand und taste, bis meine Hand findet, was ich suche – einen alten, abgewetzten Rucksack. Ich krieche wieder hervor und nehme den Rucksack in Augenschein. Er hat ein Loch an der Seite, aber es ist winzig. Er wird als Tasche reichen.
Ich hänge mir den Rucksack über eine Schulter und gehe zu meinem Schrank. Die Jeans, die Beck gestern anzuziehen versucht hat, liegt zusammengeknüllt am Boden. Ich hebe sie auf und lächle über die alberne Erinnerung, wie er, die Beine in meine Hose gezwängt, herumgehüpft ist.
Ich ignoriere den Wandschirm zum ersten Mal seit Jahren und streife statt meines Rocks die Jeans über. Dann ziehe ich Becks T-Shirt aus und nehme stattdessen einen Pullover aus dem Schrank. Aus meinem Schuhregal suche ich mir ein robustes Paar kniehoher Stiefel aus. Der Absatz ist so niedrig, dass man damit ganz gut laufen können sollte.
Seltsam, dass wenige Änderungen an der Garderobe schon dafür sorgen, dass man ganz anders aussieht. Ich blicke mein Spiegelbild mit zusammengekniffenen Augen an und reiße mir das Haargummi heraus. Die Haare fallen wie ein dunkler Vorhang über meine Schultern. Auf Becks Seite des Zimmers suche ich mir eine Strickmütze, ziehe sie mir über den Kopf und schlinge mir einen Schal um den Hals.
So. Jetzt ist mein Gesicht mehr oder minder verborgen. Niemand sollte mich erkennen können.
Aus meiner Kommode hole ich mir noch eine Hose, ein Hemd, Socken und Unterwäsche und rolle alles fest zusammen, bevor ich es in meinen Rucksack stecke. Dann gehe ich durchs Zimmer zu Becks Kommode, ziehe die unterste Schublade auf und greife ganz nach hinten. Ich finde ein altmodisches Fotoalbum und blättere es durch, Seite um Seite mit Bildern von uns beiden, wie wir spielen, essen und schlafen. Ganz gewöhnlicher Alltagskram, bis ich fast am Ende des Albums angelangt bin.
Ich ziehe das Bild aus seiner Hülle und stecke es in die Vordertasche meines Rucksacks. Am Ende öffne ich meine Schreibtischschublade und ziehe einen Briefumschlag voll mit Altem Geld heraus. Beck und ich haben jeden Geldschein gespart, den wir geschenkt bekommen haben, seit wir neun waren, und es ist mehr als genug für mehrere Zugfahrkarten, Essen und wenn nötig auch Übernachtungen. Wir hatten gehofft, eines Tages an Orte zu reisen, von denen wir bisher nur in unseren Geschichtstexten gelesen hatten. Um ehrlich zu sein, hatte ich heimlich eine solche Reise für die Zeit unmittelbar nach unserer Bindung geplant. Ich hatte eine Reiseroute festgelegt, die uns in die Östliche Gesellschaft geführt hätte, und auch durch die verbliebenen Städte unseres Staats – das sollte meine Überraschung für Beck werden.
Ich stopfe mir das Bargeld in die Taschen und gehe zum Fenster.
Ich habe Angst, dass jedes Quietschen mich verraten könnte, hebe aber dennoch das Fenster an und stecke den Kopf hinaus. Der Wind hat sich beruhigt, und der Schnee fällt leise. Ich befinde mich im ersten Stock, aber direkt unter dem Fenster liegt eine große Schneewehe. Solange der Schnee nicht gefroren ist, sollte es nicht
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