Eistochter
beiden Tage ziehen vor meinem inneren Auge vorbei. Beck und ich gehen Hand in Hand zur Schule. Ich schimpfe ihn dafür aus, dass er schon wieder seine Handschuhe vergessen hat. Beck auf dem Hügel. Seine Lippen auf meinen.
Annalise.
Ich will stehen bleiben, aber mein Schwung lässt mich noch ein paar Meter weiterschlittern. Obwohl ich wanke, gelingt es mir, mich auf den Beinen zu halten. Meine Gedanken konzentrieren sich ganz auf Callum und Annalise.
Beck wusste, was sie in der Schule wollten, als sie uns verhört haben, und er hat nichts gesagt. Sie waren seinetwegen da – deshalb hatte er solche Angst.
Aber warum sollten sie ihn anklagen? Weil Callum und Beck als Kinder nicht miteinander ausgekommen sind? Es ihm so heimzuzahlen kommt mir übertrieben vor.
Nachdem ich den Rest des eisigen Hügels hinaufgestiegen bin, bleibe ich auf der Kuppe stehen und kneife die Augen zusammen, um den Bahnhof in der Ferne zu sehen. Ich laufe den Hügel hinunter, aber nachdem ich zwei Mal ausgerutscht bin, beschließe ich, langsamer zu gehen. Ich muss immer noch die große Freifläche des Union Square überqueren und kann auf dem ebenen Gelände Zeit aufholen.
Zu spät wird mir bewusst, dass ich zugleich meine Uhr losgeworden bin, als ich mein Armband weggeworfen habe. Toll. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, als ich den menschenleeren Union Square erreiche. Aus meinen Schulbüchern weiß ich, dass diese Gegend einmal ein belebtes Einkaufsviertel war. Aber heute kommt niemand mehr hierher, bis auf ein paar Geschichtsbegeisterte und Schüler auf dem Pflichtwandertag in der zehnten Klasse.
Da ich den Zug nicht verpassen will, sprinte ich über den eisbedeckten Boden, so gut ich kann. Nach einem Dutzend Blocks geht die gespenstische Geisterstadtatmosphäre des Union Square in das Chaos des Bahnhofsviertels über.
Je näher ich herankomme, desto mehr ist auf den Straßen los. Es ist, als ob Hunderte von Transportern in exakt demselben Moment hier angekommen wären, all ihre Passagiere abgesetzt hätten und nun versuchen würden, als Erste wieder davonzurasen. Das Ergebnis ist ein Knäuel aus Menschen und Fahrzeugen, die sich zum Haupteingang des Bahnhofs drängen.
Da ich mir bewusst bin, wie bekannt mein Gesicht ist, vermeide ich jeglichen Blickkontakt, als ich mich durch die Menge in den gewaltigen Bahnhof dränge. Der Kontrast zwischen den fast menschenleeren Teilen der Stadt und diesem Ort hier ist unglaublich. Obwohl ich weiß, dass die Bahn die hauptsächliche Verkehrsverbindung so gut wie überallhin bildet, sieht es aus, als hätte ganz San Francisco beschlossen, ausgerechnet heute zu verreisen. Das könnte mir entweder helfen, mich mühelos zu verstecken, oder dafür sorgen, dass ich schneller erkannt werde.
Vor mir halten zwei große Züge und warten auf ihre nächste Abfahrt. Eine Welle der Erleichterung durchströmt mich. Ich bin nicht zu spät gekommen.
Ich muss allerdings noch eine Fahrkarte kaufen, und so dränge ich mich durch das Menschengewühl, das den Bahnsteig verstopft. Die Umarmungen und Tränen verraten mir, dass manche dieser Leute sich voneinander verabschieden, und ich schlucke einen Kloß in der Kehle hinunter. Wäre es leichter gewesen, wenn ich mich von Beck hätte verabschieden können?
Nein, das hätte keine Rolle gespielt.
Die Hinweisschilder auf den Kartenschalter führen mich, bis ich mein Ziel entdecke, und gehe zum ersten freien Schalterbeamten. Ein kleiner mausgrauer Mann. Sein orangefarbenes Alleinstehendenarmband hebt sich von seinem dunklen Arbeiterhemd ab.
Aus Angst, dass er mich ausfragen wird, zögere ich. Was, wenn Bethina die Behörden schon informiert hat? Eine halbe Sekunde lang ziehe ich in Erwägung, mich als blinder Passagier in den Zug zu schleichen. Aber nein, sie lässt mir wahrscheinlich Zeit für mich allein und wird sich erst lange nach dem Abendessen Sorgen um mich machen.
Ich trete zurück und mustere die Fahrpläne über dem Kopf des Schalterbeamten. Die rechte Spalte listet die Staatszüge auf, die bis zu 1000 Stundenkilometer schnell fahren. Die linke Spalte zeigt die Abfahrtszeiten der langsameren Regionalbahnen. Mein Blick ruht auf dem Fahrplan der Südlichen Regionalbahn – es ist die einzige Bahnlinie, die den Ort anfährt, an den ich will.
Ich halte meinen Schal hochgezogen und unterdrücke das Zittern meiner Stimme: »Ich hätte bitte gern die nächstmögliche Fahrkarte nach Summer Hill.«
Der Schalterbeamte mustert mich, und mein Magen zieht
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