Eistochter
Außerdem hält sie sich an die Vorschriften. Genau wie ich.
Aber nicht heute. Heute habe ich binnen kürzester Zeit gegen mehr Vorschriften verstoßen, als ich zählen kann. Und für wen? Für einen Jungen, der mich sein Leben lang belogen hat?
Ich reibe mir mit den Händen die Augen. Es muss mehr dahinterstecken. Ich muss Beck Gelegenheit geben, alles zu erklären – das immerhin schulde ich ihm.
Mein Magen knurrt leise, und ich versuche, das Risiko eines Besuchs im Speisewagen abzuwägen. Vielleicht wird mich niemand bemerken, wenn ich schnell bin?
Ich schlüpfe mit den Füßen in die Schuhe, ziehe meine Jacke über und schlinge mir den Schal so um den Hals, dass er nicht mehr mein ganzes Gesicht, sondern nur noch mein Kinn bedeckt. Es würde seltsam aussehen, eine Mütze zu tragen, und so lasse ich sie auf dem Bett liegen. Meine Begegnung mit dem Schalterbeamten hat mir deutlich gemacht, wie wichtig es ist, mein nacktes Handgelenk verborgen zu halten, und so ziehe ich den Arm unter die Jacke, als wäre er verletzt.
Mit der freien Hand streiche ich mir die Kletten aus den Haaren. Niemand hat mich je in der Öffentlichkeit ohne ordentlich zurückgebundenes Haar gesehen. Ich bete, dass mein »Langer-Winter«-Outfit und meine offenen Haare als Verkleidung ausreichen. Sicher rechnet doch niemand damit, mich in solch einem lächerlichen Aufzug zu sehen.
Aber der Schalterbeamte wusste, wer ich war – und das, obwohl ich den Schal hochgezogen hatte.
Der Hunger nagt an meinem Magen. Nachdem ich mir die Jacke ein letztes Mal zurechtgezogen habe, öffne ich die Tür des Abteils und lasse den Blick über den Gang schweifen. Er ist leer.
Der Zug schwankt hin und her, und ich pralle gegen die Wand des Ganges. Ich will nicht hinfallen, und so bleibe ich alle paar Meter stehen, um mich wieder aufzurichten. Als es mir schließlich gelungen ist, die hohe Kunst des Gehens zu meistern, folge ich dem Essensgeruch in den Speisewagen.
Er ist nicht gerade überfüllt, und das ist nicht gut. Je weniger Menschen hier sind, desto mehr Aufmerksamkeit ziehe ich auf mich. Der Barkeeper hebt den Blick von dem Drink, den er gerade zubereitet, und sieht mich kurz an, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmet.
Nicht einmal eine Andeutung von Wiedererkennen. Gut.
Ich rolle die Schultern, um ihre Anspannung zu lindern, und lasse mich auf einen Plüschsitz am Fenster sinken, so dass ich mit dem Rücken zum Rest des Waggons sitze und mein nacktes Handgelenk eng an meine Brust geschmiegt unter meiner Jacke liegt. Ich hoffe, dass es so aussieht, als würde ich die vorbeiziehende Landschaft bewundern.
Als der Kellner kommt, achte ich sorgfältig darauf, halb von ihm abgewandt sitzen zu bleiben, und bestelle.
Ruinen sausen verschwommen am Sichtfenster vorbei. Diese Gegend hieß früher einmal Los Angeles und hatte eine Millionenbevölkerung. Jetzt ist es nur noch eine verlassene Ödnis voll zerfallender Bauwerke, wie die meisten Städte der Alten Welt.
Nur wenige größere Städte – San Francisco, Calgary, Austin, Chicago und Ottawa – haben den Langen Winter überlebt. Der Ansturm von Menschen, die Schutz suchten und die ohnehin schon beschränkten Ressourcen überbeanspruchten, wurde den anderen Großstädten zum Verhängnis. Kleinstädte und ländliche Gebiete verschwanden einfach, bis der Staat sie gezielt wiederaufbaute, indem er große Parzellen verlassenen Landes als private Güter an Staatsleute verteilte. Der Landsitz der Channings, Summer Hill, ist einer dieser Orte, wie auch das Anwesen meiner Mutter im hohen Norden.
Verfallene Gebäude ziehen schier endlos vorüber. Ist es das, was Beck gesehen hat, als er so eilig aus dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hat, entfernt wurde?
»Oh Beck«, flüstere ich und schließe die Augen.
Ein dumpfes Klirren verrät mir, dass der Kellner meinen Obstteller auf dem Tisch abgestellt hat. Ich warte eine Minute, um sicherzugehen, dass mir nicht die Tränen kommen, und öffne dann die Augen. Da ich kurz vor dem Verhungern bin, schnappe ich mir ein Stück Ananas und vertilge es auf sehr undamenhafte Weise. Bethina wäre entsetzt, wenn sie sehen könnte, wie mir der Saft übers Gesicht läuft und dass ich kein Besteck benutzt habe.
Obwohl ich dagegen anzukämpfen versuche, dringt der Picknicktraum immer wieder in meine Gedanken ein. Beck hat das kleine Mädchen verletzt, da bin ich mir sicher. Sogar Bethina wusste das. Und doch hat sie ihn nicht gemeldet. Es ergibt keinen Sinn.
Ich
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