Eistochter
den Nummern in absteigender Reihenfolge, bis ich mein Abteil finde, und gehe hinein. Es ist eng – nur ein Stuhl, ein Tisch und ein Bett –, aber es wird seinen Zweck erfüllen. Ich werfe meinen Rucksack auf den abgenutzten Stuhl und lasse mich aufs Bett fallen. Es ist etwas zu hart für meinen Geschmack, aber da ich nur eine Nacht darin verbringen muss, kann ich mich nicht beklagen.
Es ist zu heiß in dem kleinen Raum, und so streife ich die zusätzlichen Kleiderschichten ab und lege sie ordentlich gefaltet auf den Stuhl.
Ein dumpfer Kopfschmerz pocht unmittelbar hinter meinen Augenbrauen. Ich übe mit den Fingerspitzen leichten Druck auf meine Stirn aus. Das nützt nicht viel; ich wünschte, ich hätte Dr. Hansons Pillen noch.
Der Schalterbeamte hat mich erkannt, aber wie? Er konnte mein Gesicht nicht sehen, da mein Schal einen Großteil davon verdeckt hat. Lag es an meinen Augen? Meiner Stimme? Woran?
Ich muss mich klüger anstellen. Aber um ehrlich zu sein, habe ich keine Angst, dass er meine Mutter kontaktieren könnte. Wer ist er schon? Bloß ein Alleinstehender – und noch nicht einmal einer mit einem anständigen Arbeitsplatz. Er wird nicht bis zu meiner Mutter durchdringen, da bin ich mir sicher.
Aber wenn Bethina es herausfindet … dann wird sie in den nächsten Zug steigen und mich verfolgen.
Ich starre die glatte, leere Decke des Abteils an und beginne, mir einen Plan zurechtzulegen. Bis jetzt hatte ich es nur darauf abgesehen, in den Zug zu gelangen, aber da ich ja nun hier bin, ist es an der Zeit, eine Entscheidung über meinen nächsten Spielzug zu fällen.
Beck zu finden und seine Seite der Geschichte zu hören hat für mich Priorität. Ich bin noch nicht überzeugt, dass er empfindsam ist, aber wenn er es ist, muss ich es wissen.
Bethina glaubt nicht, dass er im Gefängnis sitzt, also wissen seine Eltern vielleicht, wo er steckt. Aber was werde ich dort vorfinden? Den Sicherheitsdienst? Was, wenn seine ganze Familie empfindsam ist? Was dann?
Der Zug nimmt Fahrt auf, und ich kämpfe nicht gegen den Schlaf an, als er mich übermannt.
Wir sind sechs. Bethina macht mit uns allen einen Ausflug, um zu picknicken.
Es ist Spätsommer, und ich liege auf einer Decke und versuche, Formen in den Wolken zu erkennen. Becks Kopf ruht auf meinem Bauch. Er ist so viel kleiner als wir anderen. Ich schlinge mir seine Haare um einen Finger.
Ein älteres Mädchen aus einem anderen Haus stolpert im Vorbeilaufen ungeschickt über die eigenen Füße und landet auf Beck.
Beck schreit auf. Seine Nase blutet. Das Mädchen rennt davon. Aber als sie unter die Bäume gelangt, fällt ein Ast herab und reißt sie zu Boden. Ihr Bein steht in einem seltsamen Winkel ab. Bethina hebt in Panik Beck hoch und weist uns andere an, ihr zu folgen.
Unser Picknick ist vorbei.
Meine Augenlider fliegen auf. Das war kein Traum. Das war eine Erinnerung.
Beck hat das kleine Mädchen verletzt. Ich erinnere mich lebhaft daran. Seine blutige Nase. Ihr Aufschrei. Bethinas schockiertes Gesicht.
Und der Schaffner … Beck hat auch dem Schaffner etwas getan.
Ich drehe mich auf die Seite und ziehe die Knie an die Brust. Wieso habe ich seine Zornesausbrüche bisher nie bemerkt?
Die Erinnerung daran, wie Beck auf dem Hügel vor den Empfindsamen stand, verschafft sich Zutritt zu meinem Kopf, und mir stockt der Atem in der Kehle.
Er war das. Die Wahrheit bohrt sich in mein Herz und brennt. Ich kann mich nicht damit abfinden. Das kann ich einfach nicht. Beck tut niemandem etwas zuleide – er tötet niemanden. Er ist freundlich und witzig und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von bösartig.
Aber die Indizien … Hat Bethina das etwa gemeint?
Mir kommen wieder die Tränen. So viele Tränen um einen Jungen, der mich immer zum Lachen gebracht hat.
Der Zug rattert weiter, und jeder Kilometer bringt mich meinem Ziel näher. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich dorthin will. Ich kann Beck nicht ändern. Ich kann ihn nicht in einen Nichtempfindsamen verwandeln. Haben Caitlyn Greene und die anderen Patrioten nicht gerade deshalb solche Anstrengungen unternommen, um die Empfindsamen zu identifizieren? Weil man sie nicht ändern kann und sie deshalb immer eine Gefahr darstellen werden?
Ich wische mir das feuchte Gesicht ab und setze mich auf. Zum jetzigen Zeitpunkt muss Bethina bereits wissen, dass ich nicht mehr da bin. Ich frage mich, ob sie irgendjemanden informiert hat.
Natürlich hat sie das. Dazu ist sie verpflichtet.
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