Eistochter
teile ein Stück Käse so mit der Gabel ab, dass mein nacktes Handgelenk unter dem Tisch verborgen bleibt, und lege es auf eine Apfelscheibe. Beim Kauen grüble ich darüber nach, welche Rolle Bethina wohl spielt.
Vielleicht verfügt Beck über die Macht, Menschen zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Mr. Proctor hat im Gesellschaftskundekurs darüber gesprochen. Empfindsame können Naturkatastrophen, Hungersnöte und Kriege auslösen und Menschen den freien Willen rauben. Ich zermartere mir das Gehirn und versuche mich daran zu erinnern, ob herabstürzende Äste je ein Thema waren. Ich glaube nicht, aber es klingt nicht zu weit hergeholt.
Was ist also mit Bethina? Wenn meine Erinnerung zutrifft, wusste sie, dass Beck empfindsam ist, und hat dennoch nichts unternommen. Aber zu Hause hat sie so getan, als hätte sie keine Ahnung, was vorgeht. Das passt nicht zusammen.
»Gleich fünf auf einmal! Alles Schüler«, näselt eine Männerstimme. Der Sprecher sitzt nicht allzu weit hinter mir, und ich verlagere meine Aufmerksamkeit von dem leblosen grauen Himmel und dem kilometerweiten Nichts auf das Gespräch.
Um beschäftigt zu wirken, spieße ich ein Stück Mango auf.
»Der Westen wird zu nachsichtig, das sage ich Ihnen. Die Prozesse haben nicht das Geringste gegen die Angriffe ausgerichtet, und jetzt werden auch noch die Schulen – die sicheren Schulen – infiltriert. Was kommt als Nächstes?« Der andere Mann hat einen Akzent, den ich mit der Östlichen Gesellschaft assoziiere; er spricht schnell und mit rollendem R.
Ich wende leicht den Kopf und hoffe, einen Blick auf die beiden Männer zu erhaschen, ohne mich selbst zu zeigen. Sie sind wie Staatsleute gekleidet und tragen beide gut sichtbare blaue Armbänder. Alle Gesellschaften haben dieselbe Struktur, um es einfacher zu machen, den Rang eines Menschen zu erkennen. Aber einer von beiden trägt einen hellblauen Schal statt des normalen grünen. Er ist eindeutig ein Diplomat aus dem Osten – und das heißt, dass die beiden höchstwahrscheinlich meine Mutter kennen … und mich.
»Kennen Sie einen von ihnen?«, fragt Näselnde Stimme.
»Vielleicht das Mädchen«, antwortet der Diplomat aus dem Osten. »Aber den Rest kenne ich nicht.«
Ich runzle die Stirn. Kyra? Spricht er etwa von Kyra? Aber wie kann es sein, dass sie Beck nicht kennen? Er ist der bekannteste von allen.
»Sie sollten alle vor Gericht gestellt und hingerichtet werden. Jeder einzelne von ihnen«, sagt Näselnde Stimme. »Das würden sie schließlich umgekehrt auch mit uns machen. Sie erweisen uns keine Gnade.«
Mir sackt der Magen in die Kniekehlen, und ein kleines Keuchen entschlüpft meinen Lippen. Hingerichtet? Ist das überhaupt möglich? Würde der Staat Schüler tatsächlich töten?
Die Panik droht mich zu überwältigen, aber ich warte noch ein paar Minuten und spitze eifrig die Ohren. Doch das Gespräch hat sich mittlerweile der Landwirtschaft und der Politik zugewandt.
Ich kneife die Augen zu. Das kann einfach nicht wahr sein. Es muss ein Albtraum sein. Es muss.
Nach Summer Hill zu reisen ist schierer Wahnsinn. Wenn der Staat Beck unter Quarantäne gestellt hat, werde ich ihn unter keinen Umständen besuchen dürfen – besonders wenn ihm der Prozess gemacht werden soll. Alles, was geschehen wird, ist, dass ich als Empfindsamen-Sympathisantin erkannt und möglicherweise selbst für Verbrechen gegen den Staat vor Gericht gestellt werde.
Aber ich kann Beck nicht im Stich lassen. Die Vorstellung, dass er in irgendeiner dunklen Gefängniszelle sitzt, ohne zu wissen, welches Schicksal ihn erwartet, ist fast zu schrecklich, um darüber nachzudenken, und ich weiß mit jeder Faser meines Wesens, dass er mich seinerseits nie im Stich lassen würde. Ich bin ihm dasselbe schuldig.
Eine unwillkommene Möglichkeit fällt mir ein. Wenn Beck empfindsam ist, will er mich vielleicht gar nicht sehen. Ich kann es ertragen, wenn der Staat ihn von mir fernhält, aber wenn er mir den Rücken kehrt …
Ich schiebe meinen Stuhl zurück, lasse meinen halb leergegessenen Teller Obst und Käse auf dem Tisch stehen und gehe zur Tür. Über der Bar flackern Bilder von lächelnden Farmern und Nichtstaatsleuten über einen Wandbildschirm, aber der Ton ist leise gedreht. Wenigstens ist also irgendjemand glücklich.
Eine Hand schließt sich um meinen Arm, bevor ich die Tür erreiche.
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich dir anschließe?«
11
Maz steht breitbeinig neben mir. Er schenkt mir ein
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