Eistochter
nicht.
Warum also hat Beck mir nichts erzählt? Ich kann Geheimnisse genauso gut für mich behalten wie Maz.
Vielleicht aus Scham oder Angst. Oder beides?
Die Tür öffnet sich, und Maz tappt mit einem dicken Ballen Papierhandtücher an der Stirn herein.
»Geht es dir besser?«
Er lässt sich auf den Stuhl fallen. »Ja. Ich erhole mich schon.«
Aber wenn ich mir so ansehe, wie er den Kopf hält, frage ich mich, ob er nicht eine Gehirnerschütterung davongetragen hat. Er würde es wahrscheinlich nicht zugeben, wenn ich fragen würde, und so muss ich ihn wohl einfach im Auge behalten. Nachdem ich jahrelang zugesehen habe, wie Bethina Beck verarztet hat, bin ich Expertin darin, Gehirnerschütterungen zu erkennen.
Erster Schritt: ihn wachhalten und nach Anzeichen für Verwirrung Ausschau halten. »Ich weiß, dass du es für eine schlechte Idee hältst und überhaupt, aber wir kommen morgen früh in Summer Hill an. Wir brauchen einen Plan.«
Maz verschränkt die Hände im Nacken und streckt sich. »Du hast es dir also nicht anders überlegt?«
Ich schüttle energisch den Kopf.
»Na, in dem Fall schätze ich, wir spazieren einfach dorthin und fragen, ob wir Beck besuchen können. Dann warten wir ab, was passiert.« Er macht Witze, aber ich finde es nicht lustig.
»Und was, wenn es nicht so einfach ist? Was, wenn es dort Wächter oder so etwas gibt?« Ich mache einen Gedankensprung zu Gefängniszellen und Spionage. »Was, wenn er gar nicht da ist?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie sperren nur die schlimmsten Fälle ein. Die anderen werden lediglich unter Quarantäne gestellt oder so.«
»Weißt du denn, was genau man mit ihnen macht? Mit den anderen, meine ich.«
»Ich glaube, der Staat hält sie bis zu ihrem Prozess unter Hausarrest. Die ›harmloseren‹ Fälle werden einem Arbeitstrupp zugeteilt und in eine Siedlung verlegt. Das weißt du doch.«
Ich starre den Boden an und studiere das Punktemuster des Teppichs. Der Zug schwankt, und Maz schließt die Augen. Ich kann ihn noch nicht einschlafen lassen, und die Frage, auf die ich eine Antwort brauche, liegt mir auf der Zunge und wartet darauf, dass ich den nötigen Mut zusammenraffe. Am Ende frage ich: »Kyra wusste es nicht, bis ihre Mutter es ihr gesagt hat, oder?«
»Sie hatte keinen blassen Schimmer. Ihre Mutter dachte, sie würde darüber in Tränen ausbrechen, aber Kyra war eher freudig erregt. Sie sagte, es wäre so gewesen, als würde man erfahren, dass man ein Superheld ist.«
Sie wusste es nicht. Also wusste Beck vielleicht auch nicht Bescheid. Zumindest nicht bis heute.
Mit dem Finger zeichne ich eine Reihe von Kreisen auf den Tisch zwischen Bett und Stuhl. Die gleichförmige Bewegung hilft mir, mich zu konzentrieren. »Ich frage mich, warum sie glaubt, dass es so ist, als wäre man ein Superheld … Sie rettet doch nicht die Welt. Sie ist eine Empfindsame – sie sind die Bösen.«
»Sie verfügt über magische Kräfte, Lark. Was sollte einem daran nicht gefallen?«
Ich ignoriere seine Frage. Bis jetzt wirkt er nicht verwirrt und erinnert sich auch an unser Gespräch von vorhin. Das ist gut, auch wenn er fehlgeleitete Ansichten vertritt. Ich stehe auf, stelle mich vor ihn und starre ihm ins Gesicht.
»Was tust du da?«
Ich halte einen Finger hoch. »Kannst du den hier sehen? Ist er verschwommen?«
Maz’ albernes Lachen hallt in dem kleinen Raum wider. »Dr. Lark, untersuchen Sie mich etwa auf eine Gehirnerschütterung?«
Ich blicke finster drein. Typisch Mann, sich so über meine Besorgnis lustig zu machen! »Und wenn schon?«
»Ich hätte nie gedacht, dass du dazu neigst, einen so zu bemuttern.« Er lacht erneut, bevor er mir den Kopf tätschelt. »Siehst du? Kein Grund zur Sorge. Und nun sag schon, wer bekommt das Bett und wer den Fußboden?«
»Wer wohl?« Ich bedenke ihn mit meinem besten Du-machst-wohl-Witze-Blick, schnappe mir meinen Rucksack und gehe zum Bad.
Ich halte den Kopf gesenkt, während ich neben der Tür darauf warte, dass eine andere Passagierin fertig wird. Sobald sie das kleine Badeabteil verlassen hat, schließe ich mich ein und hänge den Rucksack an einen Kleiderhaken. Aus dem Behälter mit Gratiskosmetika nehme ich mir Zahnpasta und eine Zahnbürste. Ich hasse Mundgeruch.
Und dann sehe ich mein Gesicht. Es ist einfach nur mein normales Gesicht. Ich wirke nicht erschöpft oder wie eine Missgeburt oder wie sonst irgendetwas. Es ist nur mein Gesicht.
Meine olivgrünen Augen starren mich an. Becks
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