Eistochter
Er steigt in seine Hose und hebt sein Hemd vom Boden auf. Ich wende den Blick ab, als er es sich über das hellbraune Haar zieht.
»Nein, wirklich. Es tut mir leid!« Meine Ohren brennen.
Maz’ Lippen verziehen sich träge zu einem gehässigen Lächeln. »Hast du Beck noch nie ohne Kleider gesehen?«
»Doch, natürlich, wenn wir beim Schwimmen waren.« Ich verschränke die Arme. »Ich habe euch alle schon mit nacktem Oberkörper gesehen.«
»Das ist nicht dasselbe. Ein nackter Oberkörper und völlige Nacktheit kommen einander noch nicht einmal nahe. Was tut ihr beiden nur ganz allein in eurem Zimmer?«
»Das geht dich nichts an.«
»Hm. Ich schätze, Beck hat nicht gelogen.« Er schnalzt mit der Zunge.
Ich lasse mir eine ganze Reihe schnippischer Erwiderungen durch den Kopf gehen, gebe aber auf, als der Zug ruckelnd zum Stehen kommt. Dankbar für die Unterbrechung winke ich Maz heran. »Los. Nimm dein Gepäck, und dann gehen wir.«
Bevor wir uns herauswagen, ziehe ich am Rollo des Fensters, und es rollt sich auf.
Ich schnappe nach Luft. Alles ist schneebedeckt.
Gestern Abend sah es vor Einbruch der Dunkelheit so aus, als wären wir in wärmeres Wetter gelangt. Aber jetzt ist der Boden von einer dicken Eis- und Schneeschicht überkrustet.
»Was zur Hölle …?«, sagt Maz. »Der Barkeeper hat mir erzählt, wir wären schon in den Südgebieten.«
In den Südgebieten schneit es nie; sie sind eine der wärmsten Gegenden unserer Gesellschaft.
»Bist du sicher?«
»Absolut. Das muss für die wetterbedingte Verzögerung gesorgt haben. Hier weiß ja keiner, was zu tun ist.« Er zieht eine Schuljacke aus seinem Gepäck. »Sieht so aus, als ob ich das hier doch noch brauche.«
Ich streife mir meine schwere Jacke über. »Bereit?«
»Ja. Weißt du, welcher Bahnhof das hier ist?«
»Keine Ahnung. Kannst du es auf deinem Armband überprüfen?«
Maz schüttelt den Kopf, und das Haar fällt ihm in die Augen. »Es funktioniert nicht mehr, seit ich die Schule verlassen habe. Ich habe es vorhin schon versucht.«
»Kannst du es noch einmal versuchen?« Er setzt zu einem Kopfschütteln an, aber ich unterbreche ihn: »Bitte.«
Ein seltsamer Ausdruck huscht über sein Gesicht. Maz nimmt das blaue Band in die Hand und tippt darauf. Nichts passiert. »Siehst du? Ich glaube, sie haben es abgestellt oder so, als ich die Schule verlassen hatte.«
Warum sollte der Staat sein Armband abstellen? »Das ist seltsam. Normalerweise wollen sie doch wissen, wo wir uns aufhalten.«
Maz zuckt die Achseln. »Wahrscheinlich bin ich nicht interessant genug.«
»Da kommst du dir ganz vernachlässigt vor, wie?«, scherze ich. Armer Maz. Wie ich steht er immer ein bisschen in Becks Schatten.
Ich hänge mir den Rucksack über die Schulter und zeige auf die Tür. »Okay. Bist du bereit?«
Wir treten auf den engen Gang hinaus und verlassen den Zug. Trotz der Durchsage drängen sich verwirrte Fahrgäste auf dem Bahnsteig und stehen drei Mann tief um den Schaffner herum.
Maz und ich hüpfen und tänzeln über den rutschigen Boden und durch die Menge. Anders als die übrigen Passagiere, denen schon das Gehen schwerfällt, sind wir an dieses Wetter gewöhnt.
»He, Maz, wohin?«, rufe ich über das schrille Pfeifen des Zuges hinweg.
»Bahnsteig 2-B!«
Das Signal ertönt erneut. Ich laufe nach links, achte darauf, nicht auszurutschen, und dränge mich durch die immer dichter werdende Menschenmenge. Kalte Luft brennt mir im Gesicht, und jeder Atemzug fühlt sich so an, als würde ich Eiszapfen einatmen.
Ein Schild erregt meine Aufmerksamkeit. »Sieh mal.« Ich deute auf das Schild, auf dem Falls Way, Summer Hill und Tryse steht. »Wir sind da – wir müssen gar nicht in den anderen Zug …«
»Oh nein«, flüstert Maz laut genug, dass ich es hören kann.
Bevor ich ihn fragen kann, wovon er spricht, packt mich jemand und wirbelt mich herum.
»Schwester! Wie schön, dich zu sehen!« Callum reißt mich in eine Umarmung.
Rechts von mir steht Maz verwirrt und unschlüssig da. Ich hebe den Kopf und bedeute ihm, sich herauszuhalten.
Ich wusste ja, dass ich verfolgt werde, und jetzt glaubt er mir auch.
»Callum … was … wo kommst du denn her?« Ich widerstehe dem Drang, mich auf ihn zu stürzen und mit den Fäusten gegen seinen Brustkorb zu trommeln. Callum darf nicht sehen, dass ich wütend bin. Er muss glauben, dass er mir keine Angst macht. »Wo ist Annalise?« Ich lasse den Blick über die Menge schweifen und halte nach meiner
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