Eistochter
Augen. Unsere Augen.
Wenn er nichts wusste … dann weiß ich es vielleicht auch nicht.
Ich wende den Blick ab. Was, wenn Kyra Maz belogen hat? Das tun Empfindsame doch schließlich. Lügen. Höchstwahrscheinlich wollte sie nicht, dass er sie verrät, also hat sie so getan, als wüsste sie nichts.
Und das heißt, dass Beck auch Bescheid wusste.
Ich mache mich eilig fürs Bett fertig, vermeide es aber, in den Spiegel zu sehen.
Als ich zurück ins Zimmer komme, liegt Maz mit dem Zusatzkissen und seiner Jacke auf dem Boden. Ich steige über ihn hinweg und krieche ins Bett.
Ich liege noch wach, nachdem Maz eingeschlafen ist. Sein Schnarchen hat nicht das Geringste mit Becks gleichmäßigem Atmen gemein. Ich werfe über die Bettkante einen Blick auf Maz. Es kommt mir falsch vor, mir mit diesem Jungen ein Zimmer zu teilen.
Ich quetsche mich in eine Ecke des Betts und ziehe mir das Kissen über den Kopf. Wenn ich mich nur genug anstrenge, kann ich vielleicht so tun, als ob Maz Beck wäre, und tief und fest schlafen.
Ich sollte Beck hassen. Ich sollte Angst vor ihm haben. Aber das tue ich nicht. Ich kann es nicht. Er ist bis ins Innerste mit mir verbunden. Sein Lächeln und sein Lachen sind mit meinem ureigensten Wesen verwoben. Wer bin ich ohne ihn?
Ich kneife die Augen zu und gebe mich den Bildern von Beck hin, die hinter meinen Augenlidern tanzen.
Beeil dich, Lark. Ich warte auf dich.
Becks tiefe, honigsüße Stimme hallt in meinem Gehirn wider. Meine Augen fliegen auf und suchen nach ihm, aber natürlich ist er nicht hier. Es ist bloß Wunschdenken.
Ich umklammere meinen kleinen Vogelanhänger und bete, dass Becks Stimme sich mit meinen Träumen verweben wird.
»Ich bin bald da. Versprochen«, murmle ich, als ich in den Schlaf sinke.
»Guten Morgen, Ladys und Gentlemen!«
Die Durchsage einer monotonen Männerstimme reißt mich aus dem Schlaf.
»Aufgrund des unerwarteten Wetterwechsels halten wir in dreißig Minuten am nächsten Bahnhof zum Umsteigen an. Bitte nehmen Sie Ihr Gepäck an sich und steigen Sie in Zug 2-B, um Ihre Reise fortzusetzen. Wir bedauern die Unannehmlichkeiten.«
Noch eine wetterbedingte Verzögerung?
Mein verschobener Rucksack.
Der Schalterbeamte.
»Sie wollen nicht, dass ich ihn finde«, murmle ich laut.
» Was? «
Ich beuge mich über die Bettkante und bin überrascht, dass Maz wach ist. Er starrt zu mir herauf.
»Ich glaube, jemand verfolgt mich. Jemand, der mich von Beck fernhalten will«, sage ich.
»Es ist nur eine wetterbedingte Verzögerung. Was hat das mit dir zu tun?« Er mustert mich, als wäre ich eine senile Pflegebedürftige. »Ich glaube, du bist wahnsinnig geworden.«
Ich springe aus dem Bett. »Ich bin nicht verrückt.« Ich verschränke die Arme. »Der Schalterbeamte am Bahnhof kannte meinen Namen, und das, ohne mein Armband gesehen zu haben, und jemand ist hier eingedrungen und hat meinen Rucksack umgestellt. Ich werde wirklich verfolgt.«
Maz bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick. »Okay, erstens: Du führst dich auf wie eine Zweijährige. Zweitens: Jeder weiß, wer du und Beck seid. Ich habe die Geburtstagskarten gesehen, die ihr beiden von Mitgliedern der Gesellschaft bekommt, von Leuten, die ihr noch nie gesehen habt. Drittens« – er hält drei Finger hoch – »ist wahrscheinlich nur das Zimmermädchen hereingekommen, um aufzuräumen. Dein Abteil war doch abgeschlossen, weißt du noch?«
Mein Herzschlag verlangsamt sich. Er hat recht. Beck und ich sind weithin bekannt, teilweise aufgrund unserer Vorfahren, teilweise aufgrund von Mutters Stellung im Staat. Und das Zimmerpersonal kommt wirklich abends noch einmal herein, um die Betten zu machen.
Aber ich bin nicht überzeugt.
Ich hebe meinen Rucksack auf und gehe zum Bad. »Ich bin in ein paar Minuten zurück.«
Der Gang und das Bad sind leer. Ich putze mir die Zähne und widerstehe dem Drang, meine Haare zu einem Pferdeschwanz zurückzustreichen. Ich weiß, dass ich recht habe. Irgendjemand will nicht, dass ich Beck finde.
Ich ziehe mich nicht um – unnötig, meine sauberen Kleider zu schnell aufzubrauchen. Nachdem ich mich befriedigt im Spiegel gemustert habe, kehre ich in mein Abteil zurück.
»Du bist dran«, sage ich, als ich die Tür aufschiebe. »Oh! Entschuldige bitte! Tut mir leid!« Ich versuche, die Tür zu schließen, aber sie klemmt.
Hitze steigt mir in die Wangen. Maz trägt nur seine Unterwäsche.
Ich höre ihn lachen. »Es ist doch nicht so, dass ich völlig nackt wäre.«
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