Eistochter
Tür mit dem Fliegengitter. Sie fällt hinter mir zu.
In der großen, sonnenbeschienenen Eingangshalle donnert mir mein Herzschlag in den Ohren. Die Channings haben mich in ihrem Zuhause immer willkommen geheißen, und ich habe viele glückliche Erinnerungen an Summer Hill, aber die seltsame Barriere, die sich über dem Anwesen wölbt, und die unheimlichen Leute draußen sorgen dafür, dass ich mich nicht gerade sicher fühle. Es könnte durchaus sein, dass ich gerade in ein Haus voller Empfindsamer spaziert bin – Beck nicht ausgenommen.
»Ich bin hier drinnen, Lark«, ruft Bethinas Stimme aus einem Zimmer, das, soweit ich mich erinnere, die Bibliothek ist.
Generationen lächelnder Channings blicken aus den Fotos, die den Flur säumen, auf mich herab. Die Tür zur Bibliothek steht einen Spaltbreit offen, und ich schlüpfe hindurch, ohne mir die Mühe zu machen, sie weiter zu öffnen. Anders als der Rest der Welt besteht Becks Vater darauf, alte Papierbücher aufzubewahren, und sie füllen vom Boden bis zur Decke drei der Wände aus.
Ein übergroßes Fenster dominiert die vierte Wand, und Bethina steht davor und blickt ins Freie.
»Wie ich sehe, hast du Eamon kennengelernt.«
»Den Mann auf der Wiese?«
Sie neigt den dunklen Kopf, sagt aber nichts weiter, sondern starrt nur aus dem Fenster.
»Was ist er?« Dass der Mann – Eamon – ein nacktes Handgelenk hatte, könnte alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist er ein unerfasster Empfindsamer oder vielleicht auch ein Extremist, der am Rande der Gesellschaft lebt. Aber was er auch ist, es ist nichts Gutes.
»Er ist ein Heiler.«
Das ist nicht die Antwort, mit der ich gerechnet habe. »Ein Heiler?«
Bethina dreht sich um. Es bilden sich Fältchen in ihren Augenwinkeln, und sie lächelt. Statt mir zu antworten, sagt sie: »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
Da sind wir schon zwei. Bethina kann meine Probleme immer lösen. Sie hier, in Becks Zuhause, zu sehen, lässt mich wünschen, ich wäre geduldiger gewesen. Vielleicht hätte sie mir geholfen. »Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«
Sie sieht mir tief in die Augen, als ob sie nach etwas suchte. Sie scheint es zu finden, und ein Lufthauch entschlüpft ihren Lippen. Ein Seufzen. »Wir haben einiges zu besprechen.«
Sie hebt einen Stapel Kleider, der mir vorher gar nicht aufgefallen ist, von einem Beistelltisch hoch. »Aber warum ziehst du dich nicht erst einmal um? Du bist vollkommen durchnässt und zitterst.« Sie streckt mir ein Sommerkleid und Unterwäsche hin. »Ich habe dir das hier mitgebracht. Am Ende des Flurs ist ein Badezimmer.«
»Wo ist Beck?«, frage ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Er ist hier.«
Tränen brennen mir in den Augen, als ich von Erleichterung überwältigt werde. Er ist hier. Nicht im Gefängnis. Nicht auf dem Weg in ein Arbeitslager. Sondern hier, bei seiner Familie.
Es geht Beck gut.
Ich wende mich zur Tür, da ich es kaum abwarten kann, ihn zu suchen. »Ist er draußen?«, frage ich. Er kann unmöglich wissen, dass ich angekommen bin, sonst hätte er mich begrüßt, sobald ich die Barrikade durchbrochen hatte. Vielleicht kann ich ihn überraschen.
Bethina schüttelt den Kopf. »Wenn du und ich miteinander gesprochen haben, darfst du Beck sehen. Jetzt geh dich umziehen.«
Ich wirble herum und verschränke die Arme. »Nein. Ich will ihn sofort sehen.«
Bethina neigt den Kopf leicht zur Seite und zieht die Augenbrauen hoch. Sie muss gar nicht erst etwas sagen, damit ich weiß, dass Widerspruch zwecklos ist.
Ich reiße ihr den Kleiderstapel aus der Hand. Sosehr es mich auch stört, mich gedulden zu müssen, bis ich Beck sehen darf, ich möchte nicht in tropfnassen Kleidern dasitzen. Meine Haut brennt und kribbelt, als sie langsam wieder eine normale Temperatur anzunehmen beginnt.
Ich gehe eilig ins Badezimmer und ziehe mich aus. Das trockene Sommerkleid und die Sandalen stellen gegenüber meiner gefrorene Jeans und den triefenden Stiefeln eine gewaltige Verbesserung dar. Nachdem ich mir etwas Wasser ins Gesicht gespritzt habe, fahre ich mir mit den Händen durch die Haare, bis ich ansatzweise vorzeigbar aussehe, und sammle dann meine nassen Sachen ein, bevor ich in die Bibliothek zurückkehre.
»Hier.« Ich werfe Bethina meine tropfnassen Kleider zu.
Sie greift nicht danach, sondern lässt sie zu Boden fallen. »Es ist mir gleichgültig, wie wütend du bist, Lark – du wirst mich nicht respektlos
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