Eistochter
stärksten sein, die es je gab.«
Ich beiße mir auf die Zunge, bis es wehtut. Ich kann nicht sprechen, denn wenn ich es tue, werden keine Worte aus meinem Mund hervordringen, sondern nur ein langgezogener, gequälter Schrei. Becks schiefes Grinsen huscht vor meinem inneren Auge vorbei, sein weiches Haar, die Wärme seiner Hand in meiner. Nicht Beck. Jeder, nur nicht er!
Die entsetzliche Sommerhitze wabert durchs offene Fenster herein und klebt an meiner Haut. Es ist zu heiß. Ich brauche Luft. Ich brauche irgendetwas.
Ich springe auf, renne zum Fenster und stoße es auf, bis es nicht weiter geht. Aber das hindert mich nicht daran, es zu versuchen. Ich schlage das Fenster gegen seinen eigenen Rahmen, immer und immer wieder.
»Was soll das heißen?«, rufe ich. »Was ist er? Ist er böse?«
Auf dem gepflegten Teil des Rasens spazieren die in Tuniken gekleideten Leute umher, die ich vorhin schon gesehen habe. Ein paar von ihnen beobachten das Haus, als ob sie uns belauschten. Der gutaussehende Mann mit der furchteinflößenden Stimme sitzt am Rande der Veranda und lässt die Beine baumeln. Er wendet mir den Kopf zu und lächelt, als ob mein Leid ihn amüsierte.
»Was ist?«, schreie ich. »Warum grinst du mich so an?«
Bethina schließt die Arme um mich und zieht mich mit dem Rücken an sich. »Pst … Es ist alles gut, Lark. Hol tief Luft.«
Der Mann auf der Veranda lacht. Über meine Schulter hinweg knurrt Bethina: »Verschwinde, Eamon.«
Er springt von der Veranda, schlendert daran entlang und lässt die Finger über das hölzerne Geländer wandern. Erneut ertönt das Lied, das er schon vorhin gepfiffen hat. Als er außer Sichtweite ist, lasse ich meinen Körper erschlaffen. Bethina hält mich fest und streichelt mir die Haare, bis ich meine Selbstbeherrschung zurückgewinne und zulasse, dass sie mich wieder zur Couch führt.
Bethina gießt mir ein Glas Wasser aus der Karaffe auf dem Beistelltisch ein und reicht es mir. Die Eiseskälte fühlt sich gut an.
»Beck ist nicht böse. Er ist ein Lichthexer, ein Schöpfer.« Sie trinkt aus ihrem Glas. »Auch die Dunkelhexen sind nicht von Natur aus böse. Aber sie sind Zerstörer, und sie lieben Macht.«
Gut. Wenn er schon empfindsam sein muss, soll er lieber ein Schöpfer sein. »Ist er in Gefahr? Wollen die Dunkelhexen ihm etwas antun?«
Bethina schließt die Augen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich regelmäßig mit jedem Atemzug, als ob sie schläft. »Was weißt du über deine Familie?«
Ein Großteil, wenn nicht gar die Gesamtheit meines Wissens, stammt aus meinen Schulbüchern. »Das Übliche über Caitlyn. Dass meine Großeltern beide im politischen Zweig des Staates gearbeitet haben. Und natürlich, dass meine Mutter das Stellvertretende Staatsoberhaupt ist und so die höchste Position einnimmt, die eine Greene seit Caitlyn je bekleidet hat.«
»Deine Großeltern und Eltern sind Mischbindungen eingegangen.«
Ich sehe sie ausdruckslos an, weil ich mir nicht sicher bin, was das bedeutet.
»Sie haben gegen das Partnerschaftssystem verstoßen, indem sie außerhalb ihrer Gruppe geheiratet und Licht und Dunkel vermischt haben. Sie haben die Vorschriften, die deine Vorfahrin Caitlyn festgelegt hat, um unsere Blutlinien zu bewahren und zu stärken, vollkommen außer Acht gelassen.«
Taubheit breitet sich in meinem Körper aus, und mein Herzschlag beschleunigt sich. »Sie waren also Licht und Dunkel? Meine Familie? Sie sind empfindsam?«
»Ja.« Sie mustert mich aufmerksam und faltet die Hände im Schoß. »Caitlyns Blutlinie ist sehr stark. Statt sich in jeder neuen Generation abzuschwächen, scheint sie an Kraft zu gewinnen. Manche Leute sagen, dass keine andere erwachsene Hexe mit den Dunklen Kräften deiner Mutter mithalten kann, die sogar Caitlyns Fähigkeiten in den Schatten stellen.«
Ich klammere mich an das letzte Eckchen meines Verstandes und versuche, im Hier und Jetzt zu bleiben. Meine Mutter? Sie arbeitet für den Staat. Das kann doch nicht sein.
Nur dass es doch sein kann. Denn Bethina hat mir ja gesagt, dass der Staat nur ein Schwindel ist, eine Illusion, die dazu dient, Leute wie mich hinters Licht zu führen.
Bethina erwidert meinen Blick, und ein köstlich warmes Gefühl steigt langsam aus meinen Zehen bis in den Kopf empor. Das Entsetzen ist zwar noch nicht ganz verschwunden, lässt aber nach und weicht einem anderen: Bethina kontrolliert meine Emotionen.
Sie geht durchs Zimmer und setzt sich neben mich. »Ich weiß, dass das ein
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