Eistochter
Schock für dich ist.«
Zum ersten Mal, seit ich die Schule verlassen habe, fühle ich mich vollkommen geschlagen.
Mein ganzes Leben war eine Lüge: der Staat, Beck, Bethina, meine Freunde.
Meine Familie.
Ich.
Ich bin eine Empfindsame. Ich bin eine von ihnen. Wie konnte Kyra das nur für etwas Gutes halten?
Ich beuge mich vornüber und würge.
Aus dem Nichts erscheint ein Becken vor mir, und ich gebe meinen Mageninhalt von mir.
Bethina reicht mir ein Papiertuch, und ich wische mir den Mund ab. Der säuerliche Geschmack bleibt bestehen und droht dafür zu sorgen, dass ich gleich wieder nach dem Becken greifen muss.
Das Ganze muss ein Irrtum sein. »Ich bin empfindsam?«
»Ja. Die Familie deiner Mutter besteht seit Anbeginn der Zeit aus einer ungebrochenen Reihe mächtiger Hexen. Dein Vater stammt aus einer unbedeutenderen Lichthexenfamilie – du siehst ihm sehr ähnlich.«
Wenigstens bin ich auf der richtigen Seite – bei Beck.
Aber dann wird mir klar, dass das heißt, dass wir Mutter – und die Macht des Staats – gegen uns haben, und mir dreht sich erneut der Magen um. »Ist Beck in Sicherheit? Will meine Mutter ihm schaden?«
»Für den Augenblick ist er nicht in Gefahr.«
Das ist nicht die Antwort, die ich hören will. Ich bin mir sicher, dass Mutter mir nichts antun wird – ich sehe sie zwar nicht sehr oft, aber sie macht sich Sorgen um mich. Ich habe sie in den Nachrichten weinen sehen. Das hätte sie nicht getan, wenn sie es nicht ernst meinen würde. Sie kann es sich nicht leisten, dem Volk den Eindruck zu vermitteln, dass sie schwach ist.
Aber Beck? Würde sie ihm etwas antun? Und warum hat sie es noch nicht getan?
»Lark, verstehst du, was ich dir sage?« Bethinas Gesicht wirkt greisenhaft, älter, als ich sie in Erinnerung habe. »Seit vielen Jahren führen die Dunkelhexen ein scheinbar friedfertiges Leben, aber sie warten auf eine Dunkelhexe, die stärker als alle anderen ist und sie anführen soll. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.«
Ihre Augen starren mich durchdringend an.
Panik durchzuckt meinen Körper.
Bethina ergreift meine Hand und drückt sie sich aufs Herz. »Sie haben auf dich gewartet.«
17
Die Welt ist verschwommen, ja verzerrt. Nichts sieht mehr richtig aus. Bethinas Mund bewegt sich, aber es ertönt kein Geräusch. Ich kann nichts verstehen. Dennoch halte ich mir die Ohren zu, um sie vor den Worten zu beschirmen, die ich nicht hören will.
Blut pocht mir in den Schläfen und rast durch meine Adern. In mir baut sich Energie auf. Ich kneife die Augen zu. Es nützt nichts.
»Nein!«, schreie ich, und das Fenster gleich neben uns birst. Regen peitscht durch das klaffende Loch in der Wand auf uns ein.
»Nein!« Ich rolle mich zu einer festen Kugel zusammen. Die Knie an die Brust gezogen, wiege ich mich hin und her und versuche, Bethinas Worte zu vergessen. Ihre Hände reiben mir den Rücken, während mir Tränen über die Wangen und auf die Knie laufen.
»Wie?« Ich schmiege das Gesicht enger an meine Knie. »Warum?«
Das Haus erzittert. Ein tiefes Grollen hallt durch den Raum. Der Boden schwankt unter mir, und aus einem anderen Teil des Hauses ertönen Schreie.
Bethina berührt mich noch einmal, und ich gleite in die Dunkelheit.
Meine Augen wollen sich nicht öffnen, aber ich spüre, wie sich etwas im Zimmer verschiebt. Es kommt zur Ruhe. Ich höre, wie Glas eingesammelt und neue Fenster eingesetzt werden. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Stille breitet sich in mir aus. Ich bin ruhig.
Ich lasse Frieden einkehren. Meine Atmung ist gleichmäßig und langsam. Undeutliche Geräusche dringen wie ein leises Summen bis in mein Gehirn. Mein Leben, meine Geschichte – nichts davon ergibt mehr einen Sinn.
Gnädigerweise versinke ich in einem stillen Abgrund.
Als ich die Augen öffne, bin ich allein. Bethina hat mich allein gelassen. Irgendwo draußen läutet eine Glocke. Sechs Uhr.
Mein Kopf schwankt hin und her und sackt herunter, als ob ich unter Drogen stünde. Das ist etwas ganz anderes als Annalises geballte Luft. Mein Körper will sich einfach nicht bewegen. Ich blinzle und versuche, den Mund zu öffnen, um etwas zu rufen. Kein Laut. Meine Stimme ist einfach verschwunden. Der Schlaf zieht mich in seine Umklammerung zurück, und ich heiße ihn willkommen.
Anders als zuvor sind meine Träume nicht leer. Bilder voller Gewalt tanzen durch meinen Verstand, während mein Herz noch heftiger brennt. Es wirbelt in meinem Innern, pulsiert, erwacht zum Leben.
Ich
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