Eistod
es etwas geben, das alle miteinander verbindet.«
Jagmetti schaute ratlos zu dem Karton.
»Einen gemeinsamen Nenner, meine ich.« Lenz drehte den Kopf in alle Richtungen und massierte sich den verspannten Nacken. »Wir müssen jetzt alles ganz genau wissen. Sonst kommen wir nicht weiter.« Er stand auf, ging zum Pappkarton an der Wand und schrieb: Wohnort? … Bekannte? … Freunde? … Tod? … Todesursache? … Totenschein?
Gemeinsam erstellten sie eine lange Liste. Als der ganze Karton vollgeschrieben war, seufzte Jagmetti laut: »Ohne Hilfe brauchen wir Wochen! Wir sind aber nur zu dritt.«
»Zu zweit«, bemerkte Lenz trocken. »Im Moment jedenfalls.«
Sie gingen die Liste nochmals durch, strichen wieder und setzten Prioritäten.
Eschenbach kam nicht mehr. Gegen halb eins verabschiedete sich Jagmetti und fuhr zurück in die Innenstadt. Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Frauenmünster ab und ging den Rest des Weges zu Fuß. Auch zu Hause war der Kommissar nicht. Es sah alles noch genau so aus wie am Morgen, als sie gemeinsam gefrühstückt hatten. Der Honig stand noch da, der Deckel halb offen; und Brotkrümel zierten den Küchentisch.
Jagmetti lag eine Weile wach und dachte nach. Eschenbach hatte ihm Kathrins altes Zimmer hergerichtet. Ein BRAVO -Poster von Bon Jovi hing noch da und eins von Eminem. Er dachte an die kleine Familie, die er immer für unzertrennlich gehalten hatte, und daran, wie es Kathrin wohl ging. Kurz bevor die Gedanken in seinem Kopf zu kreisen begannen, schlief er ein.
31
Konrad Schwinn stand in der Migros und studierte das Kleingedruckte auf einer Packung Fertigrisotto.
3 -Carboxy- 3 -hydroxy-pentan- 1 , 5 -disäure, besser bekannt als Zitronensäure, ist ein farbloser, wasserlöslicher Feststoff. Sie wird in der Lebensmittelindustrie als Säuerungsmittel und zur Konservierung verwendet, trägt die Bezeichnung E 330 und wird mit dem Urin wieder ausgeschieden. Der menschliche Organismus produziert diesen Stoff ebenfalls, im Rahmen seines Citratzyklus. Es handelt sich dabei um einen komplizierten Stoffwechselvorgang, für dessen Aufklärung der deutsche Biochemiker Hans Adolf Krebs 1953 mit dem Nobelpreis für Medizin belohnt wurde.
Dies alles wusste Schwinn, nur kochen konnte er nicht. Wahllos füllte er seinen Einkaufskorb mit Fertigprodukten. Er wäre gerne wieder einmal in ein Restaurant gegangen; in den Kreis 6 oder zu Barbara in die Caffetteria am Limmatplatz. Aber weil es nicht klug war, ließ er es bleiben. Nicht einmal zu McDonald’s traute er sich. Zürich war nicht New York, Untertauchen kein Zuckerschlecken.
Schwinn schleppte die Tüten am Zeitungsstand vorbei. Einen Moment zögerte er, vielleicht sollte er sich noch eine Zeitschrift mitnehmen. Flüchtig las er die Überschriften. Bei einer blieb er hängen. Ungläubig las er sie ein zweites Mal: ETH entwickelt Drogen für CIA , titelte der Blick. Auf der Frontseite war Winters Kopf groß abgebildet. Schwinn durchfuhr ein eiskalter Schauer. Der Professor sah ihm direkt in die Augen: »Mein lieber Koni …« Schwinn stellte die Einkaufstaschen auf dem Boden ab. Er nahm ein Exemplar und blätterte darin. Es ging um geheime Dokumente des Nachrichtendienstes. Einige Passagen wurden zitiert. Schwinn kannte sie. Er hatte sie selbst übersetzt, Heiligabend in Zimmerwald. Die Berichte – das Original und die deutsche Übersetzung – waren abgebildet.
»Sind das Ihre Tüten?«, meckerte ein älterer Herr. Er hatte Schwinn von hinten angerempelt und sah ihn nun giftig an. Der Assistenzprofessor nickte.
»Sie müssen die Zeitung noch bezahlen!«, rief die Kioskfrau.
»Ja.« Mit zwei Einkaufstaschen in einer Hand, der Zeitung unterm Kinn und den Gedanken ganz woanders bezahlte Schwinn.
Zurück in seinem Übergangsdomizil, verriegelte er die Wohnungstür, setzte sich auf den nächsten Stuhl und las den Artikel nun ganz genau. Es bestand kein Zweifel, jemand musste das Original samt Übersetzung der Zeitung zugespielt haben. Schwinn erfuhr, dass man Winter an der ETH nicht habe erreichen können. Eine Kurzbiografie des Professors war abgedruckt sowie eine Liste seiner Forschungsschwerpunkte und wissenschaftlichen Meriten. Ein Fachmann auf dem Gebiet der Verhörmethodik – Schwinn hatte den Namen noch nie gehört – meinte, dass er all das für möglich hielt. Und ein emeritierter Professor, angeblich ein Experte in Militärfragen, verkündete: »Natürlich weiß ich von all dem nichts. Aber es
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