Eisweihnacht
fünfundzwanzig Jahre jünger als Gehling. Aber daran dachte die Tante wohl gar nicht.
«Wer war denn eigentlich eben an der Tür?», fragte Elise, um abzulenken. «Ich habe es schellen gehört.»
«Niemand, Fräulein Elise», sagte Line fröhlich, und gleichzeitig die Tante: «Ach, das war bloß fürs Holz.»
Aha.
Die Tante kam auf Elise zu und fasste sie an beiden Schultern. «Elischen, wirst sehen, es wird schön werden, wenn du deinem Hausstaat in Dingelstedt vorstehst. Ich werde dich oft besuchen kommen. Das hab ich mir bei Gehling schon ausgebeten.»
«Ach, Tantchen … ich weiß doch gar nicht, ob ich will.»
«Das, mein gutes Kind, ist noch jeder Braut so gegangen. Die Menschheit ist trotzdem noch nicht ausgestorben. – Übrigens, dein Vater will dich sprechen. Betreffs deiner Vagabunden oben. Er will wissen, ob du heute früh bei deinen Erkundigungen in der Judengasse etwas herausgefunden hast. Und ich natürlich auch. Komm, lass uns hochgehen. Dein Vater sitzt in seiner Qualmbude. Nur dass du vorbereitet bist, seine Stimmung ist heut besonders finster. – Ach nein. Weißt du, was: Wir lassen es mit dem Hochgehen. Es gibt ohnehin gleich Essen. Vielleicht ist der Gute besser zu genießen, wenn er was im Magen hat.»
D as Esszimmer war so düster, dass der Leuchter entzündet werden musste. Sonst hätte das Rotkraut genauso gut grün sein können, man hätte den Unterschied nicht gesehen. Statt Äpfeln hatte Line Blutorangen beigemengt. Da sie so viel Obst aus dem Geschäft übrig hatten, schien es Verschwendung, Äpfel zu kaufen.
Elises Bericht über ihren vergeblichen Besuch bei dem Herrn Goldfarb an der Schönen Aussicht war abgeleistet. Der Vater nutzte ihn zunächst als Stichwort, um kräftig über die Juden zu schimpfen. Früher war er keiner von denen gewesen, die immer alles auf die Juden schoben, die angeblich zu viele Privilegien hatten. Aber seit der Vater nach dem Schiffbruch seiner zweiten Ehe zum ewigen Grantler und Nörgler geworden war, hatte nun auch er sich die Feindschaft gegenüber den Juden angewöhnt. Angeblich gebührten ihnen keine Bürgerrechte, weil sie keine guten Deutschen waren. Hatten sie sich denn am Freiheitskampf gegen Napoleon beteiligt? Nicht, dass man wüsste. Elise hätte dagegen so einiges einwenden können, aber hielt ihren Mund und ließ ihrem Vater sein Ventil.
Als der Kaufmann Best mit der Leier von den Juden durch war und sein Stück Kochfleisch aufgegessen hatte, langte er wieder beim vorherigen Thema an: Elises «Vagabunden».
«Naiv, wie du bist, ahnst du natürlich nicht, wen du uns da ins Haus geschleppt hast», begann er süffisant und genoss Elises erschrockenen Blick. Er gab sich ganz den Anschein, als hätte er eine geheime Information, mit der er bisher hinterm Berg gehalten hatte.
«Wieso, wen denn?», fragte die Tante trocken und nahm einen Schluck Wein. «Sind die beiden im ganzen Land gesuchte Betrüger oder wie?»
«Na, beinahe», sagte der Vater. Elise saß stocksteif. War sie wieder so dumm gewesen, ihr Vertrauen jemandem zu schenken, der es nicht verdiente? Doch die Tante, die weniger persönlich betroffen war, ließ sich nicht beeindrucken.
«Soso. Ich muss sagen, das junge Mädchen ist schon ein bisselchen seltsam. So als ob sie was zu verbergen hätte. Sie erzählt ja auch nichts von sich. Aber das Jüngelchen, das ist echt. Ich glaub nicht, dass so ein kleiner Bursche sich so verstellen kann.»
«Der Junge ist ein armer Kerl», stimmte der Vater zu. Elise atmete auf. «Dem Bübchen kann ich bei seiner Lage sogar verzeihen, dass es dem Stamme Juda entsprossen ist», sprach er weiter. «Was sind das für Leute, die ein Kind bei dem Wetter ins Ungewisse schicken? Man schickt ja einen Hund nicht vor die Tür in diesem Dezember. Aber diese Marie … ich habe sie mir vorgenommen, heute früh, als du fort warst, Elise. Hab gesagt, sie solle mir mal hopp, hopp ihre Papiere, ihr Dienstbuch zeigen. Da holt sie eine abgegriffene Geburtsurkunde hervor. Was anderes hätte sie nicht dabei. Und wie sie mir das Zettelchen entgegenhält, bricht sie in Tränen aus.»
«Nach abgefeimter Betrügerin hört sich das eigentlich nicht an», wagte Elise vorsichtig. (Aber wenn die Tränen geschauspielert waren?)
Der Vater lachte. «Naa, abgefeimt ist nicht das rechte Wort. Dumm schon eher. Dumm und in dem Alter schon verdorben. Da kann man nur hoffen, dass ihr alles, was ihr widerfahren ist, eine Lehre sein wird. Wie sie den Jungen aufgelesen hat auf
Weitere Kostenlose Bücher