Eisweihnacht
in ihrer Lage noch dem fremden Jungen geholfen hat. Mein Beschluss ist, sie kann bis Heiligabend früh bleiben. Dann setzen wir sie in die Eisenbahn nach Darmstadt, und von da muss sie sehen, wie sie sich bis Umstadt durchschlägt und was ihr dort widerfährt.»
«Gut», sagte Elise erleichtert. «Bis dahin kann sie uns noch mit dem kranken Josua zur Hand gehen. Und am Heiligen Abend sind Maries Eltern hoffentlich milde gestimmt. Dann ist doch fürs Erste alles geklärt.»
«Nein, nicht alles, mein Kind», mischte sich die Tante ein. Doch bevor sie weitersprechen konnte, wurde sie von der Glocke an der Haustür unterbrochen. Kam es Elise nur so vor, oder ging es heute im Haus zu wie in einem Taubenschlag? Mit einem Ruck sprang die Tante auf, sagte: «
Ich
gehe!», als hätte ihr das jemand verwehrt. Nach keiner halben Minute kehrte sie an den Tisch zurück, ein kleines Strohkörbchen in der Hand, das mit einem bestickten Tuch zugedeckt war. Ihre Augen glänzten, und der Kopf ruckelte verdächtig. «Nun rate mal», sagte sie schelmisch zu Elise, «was ich dir mitgebracht habe!» Lockend hielt sie ihrer Nichte das Körbchen vor die Nase und ließ es hin- und herbaumeln.
«Ich habe keine Ahnung», sagte Elise. (Warum dachte sie, es könnte etwas mit Carl zu tun haben? So ein Unsinn. So ein vollkommener Unsinn.)
«Dann heb doch mal das Tüchlein ab», sagte die Tante.
«Ja, sapperment, wollt ihr das vielleicht nachher erledigen, wenn wir fertig gegessen haben?», schimpfte der Vater. Line hatte unterdessen den Nachtisch aufgetragen, einen Pudding mit Zimt, Rum und, natürlich, Blutorangen. Die Tante hob jetzt den Zeigefinger an die Lippen, sah ihren Bruder verschwörerisch an und machte: «Scht!»
Elise ahnte Böses. Der Korb baumelte immer noch vor ihrer Nase. Sie griff nach dem Tuch, das den Inhalt verdeckte, und zog es ab.
Du lieber Gott. Ein Quetschemännchen. Ein hässliches, verschrumpeltes Quetschemännchen mit einer bemalten Walnuss als Kopf, darauf ein Zylinder, und wie üblich aufgespießten Trockenpflaumen als Arme und Beine, daneben ein Zettel. Elise bekam feurig heiße Wangen vor Schreck, hörte die Tante gackernd kichern. Wie unter einem Zwang griff Elise nach dem Zettel. Sie ahnte, was dort geschrieben stehen musste. Nämlich das Folgende:
Verehrte, werte – geliebte Elise! Ein Vögelchen hat mir zugetragen, wie in Frankfurt Liebende miteinander verkehren. Auch ich will mich dieser Sitte anschließen und übersende Ihnen hiermit diesen kleinen Kerl, der so allerlei symbolisiert, und hoffe, dass Sie ihn freundlich bei sich aufnehmen. In glühender Erwartung verharrt Ihr Sie bewundernder Friedrich S. Gehling (Pastor, Lic. Theol.)
Elise seufzte, nahm der Tante das Körbchen aus der Hand und stellte es neben ihrem Puddingschälchen auf dem Tisch ab. Es schien unendlich schwer zu sein.
«Na, freust du dich?», fragte die Tante, die immer noch erwartungsfroh neben ihr stand. «Sieh doch, Ernst, wie rot sie geworden ist! Natürlich freut sie sich. Elischen, wir glauben dir nicht, wenn du das Gegenteil behauptest.»
Elise war sich sicher, dass sie gerade eben wieder blass wurde. Jedenfalls war ihr ganz schlecht. «Ist der Bote noch da?», fragte sie schwach.
«Nein, der ist gleich wieder gegangen», antwortete die Tante.
Was hieß das nun? Intrige der Tante? «Aber nicht, weil du ihn weggeschickt hast?», fragte Elise zur Sicherheit. «Nein, i wo!», behauptete die Tante und legte die Hand aufs Herz.
Die Sitte mit den sogenannten Quetschemännchen war nämlich so: Bekam man eines von einem Mann gesandt und behielt es, dann hieß das, man wolle auch den Mann, von dem es kam. Wenn man aber auf den Antrag per Quetschemännchen mit Nein antworten wollte, musste man das Männchen wieder an seinen Absender zurückschicken. Und zwar möglichst sofort. Elise war unter Zugzwang. Warum bedrängte Gehling sie so? Konnte er nicht in Ruhe auf ihre Entscheidung warten? Er war ja gerade erst eine Stunde fort, da kam schon das Ultimatum!
«Ich muss nachdenken», sagte sie schroff, raffte ihren Rock, sprang auf und lief aus dem Esszimmer. Ihren Pudding ließ sie stehen, ebenso das Körbchen mit dem grinsenden kleinen Trockenfrüchtemann. In der Diele erst fiel Elise auf, dass sie nicht in ihr Zimmer flüchten konnte. Da waren ja Josua und Marie, und sie wollte jetzt einfach nur allein sein. Sie nahm trotzdem die Treppe hoch. Im ersten Stock angekommen, schloss sie sich in dem unbenutzten und unbeheizten kleinen
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