Eisweihnacht
Norddeutschland, und dort selbst ganz allein unter Fremden wäre. Eigentlich genau wie Josua nach dem Tod seiner Eltern. Sie strich dem Jungen durchs Haar und verbiss sich eine Träne.
«Macht ihr nur weiter, ich muss jetzt schnell einen Brief schreiben», beendete sie das Gespräch und setzte sich an ihr Schreibkommödchen. Was sie schrieb, an Gehling natürlich, war nicht besonders lang. Sie faltete den Brief, adressierte ihn und legte ihn zu der bunten Papiertüte, in die sie das Quetscheweibchen hatte einwickeln lassen.
«Marie, können Sie mir einen Gefallen tun?», fragte sie.
«Aber natürlich», sagte Marie und kam auf Elises Wink herbei.
«Dieser Brief und die Tüte müssen im Haus des Pfarrers Wartenstein zugestellt werden. Ich erkläre Ihnen gleich, wie Sie hinkommen. Es ist nicht weit.»
Marie nickte.
«Mein Vater hat uns Ihre Geschichte erzählt», fügte Elise leise hinzu. «Ich meine, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich informiert bin.»
«Ach, Fräulein Elise, ich hätte Ihnen das gestern schon erzählen sollen. Aber ich hab mich nicht getraut.»
«Ach was. Wir hatten ja gestern ohnehin andere Sorgen. Was ich nur wissen will, haben Sie meinem Vater alles gesagt, oder ist da noch etwas, das Ihnen das Herz drückt?»
Marie seufzte nur tief.
«Ah», sagte Elise leise. «Wir sprechen noch darüber. Jetzt eilt dieser Brief hier. – Josua, mein Kleiner, können wir dich ein Viertelstündchen alleine lassen? Ich muss nämlich auch noch mal fort.»
«Ich hab ja alles, was ich brauche», sagte der Junge tapfer.
Elise ihrerseits brauchte noch zehn Minuten, bis sie sich bereit gemacht hatte. Sie kämmte und band sich die Haare neu und puderte sich das Gesicht, und dann zog sie sich warme Stulpen über die Beine. Ihr Plan war folgender: Sie wollte nach Carl suchen, und dann wollte sie ihm ihre Meinung sagen, ihn wissen lassen, was sie von ihm hielt und in welche Lage er sie gebracht hatte. Dabei wollte sie weder frieren noch sich hässlich fühlen.
Und Gehling – natürlich würde sie ihn am Ende heiraten. Es blieb ihr ja kaum etwas anderes übrig. Aber er sollte bloß nicht denken, dass sie sich schieben und biegen ließ, ohne je einen Widerstand entgegenzusetzen. Er musste ihr schon die nötige Zeit lassen, um sich mit ihm und einem derart folgenschweren Entschluss anzufreunden. Selbst der Vater konnte nicht von ihr erwarten, dass sie einem Mann ein Eheversprechen gab, den sie gerade einmal vierundzwanzig Stunden kannte.
A nders als der Kaufmann Best betrieb die Compagnie Riemenschneider ein Geschäft
en gros et en détail
, das heißt einen Laden, der auch für Publikumsverkehr geöffnet war und nicht nur für Händler. Elises Herz schlug mächtig, als sie den Laden auf der Zeil erreichte. Beinahe hätte sie vor Angst gekniffen. Doch dann betrat sie den Verkaufsraum doch.
Carl war nicht zu sehen. Nur ein Fräulein mit Lorgnette. Elise atmete durch, dann fragte sie, ob der Geschäftsführer im Hause sei und ob sie ihn kurz privat sprechen könne. Sie sei Fräulein Best vom Großhandel Best.
«Ich werde mich erkundigen, warten Sie doch bitte», sagte die Angestellte und verschwand nach hinten.
Jetzt erst, da Elise wirklich hier bei Riemenschneider stand, schoss ihr eine jähe Hoffnung in den Sinn: Sollte sie nicht lieber nett tun und ihn überreden, die unehrenhafte Konkurrenz zu beenden, sodass der Bankrott für das Handelshaus Best abgewendet würde? Dann sähe ja die Zukunft ganz anders aus! Sie müsste Gehling nicht heiraten, der Vater wäre seiner Sorgen enthoben … Ja, es war doch ihre Pflicht, dies wenigstens zu versuchen! Es war ganz richtig, dass sie hergekommen war.
Nach einer Minute war das Fräulein wieder da. «Bitt schön», sagte es und machte Elise ein Zeichen, nach hinten zu folgen.
Carl, wie gestern gekleidet, saß in einem Kontorraum, viel größer und heller als der Best’sche, mit einer breiten Fensterfront. Der mächtige Schreibtisch stand auf einem erhöhten Podest vor einer Regalwand mit Akten. Als Elise eintrat, legte Carl die Feder nieder, die er in der Hand gehalten hatte. Wie sah er seriös aus in seiner Weste mit Vatermörder und Plastron. Das Fräulein verschwand und schloss die Tür. Sie waren alleine, und Elise verschlug es die Sprache. Die Gegenwart Carls schnürte ihr die Kehle ab. Sein Blick war nicht zu deuten.
Er war es, der nach einem Moment des Schweigens das Wort ergriff.
«Soso. Da bist du also tatsächlich gekommen.»
Der Ton war kühl. Elise
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