Eisweihnacht
Gästezimmer ein. Überall im Haus gab es morgens Eisblumen an den Fenstern. Hier aber bildeten die Eiskunstwerke eine dicke Schicht, in der ein Geflecht aus Eiskristallen das nächste überlagerte wie ein verwunschener Wald. Es war düster und so kalt, dass Elises Atem bei jedem Zug kondensierte. Die Kälte war fast wohltuend. Sie kühlte das überhitzte Gemüt. Und während Elise tief die kalte Luft einatmend die Kruste aus Eisblumen am Fenster betrachtete, den einzig hellen Fleck im Raum, da schälte sich unter all den eisigen Gebilden ein kleines Figürchen mit einem Rock hervor. Wenn man nur lange genug hinsah, entdeckte man immer die merkwürdigsten Bilder im Eis. Da fiel plötzlich Elise ein, was sie tun konnte. Die Idee war ziemlich albern, aber …
«Kind! Elischen! Wo bist du?», rief es von draußen. Die Tante. Mein Gott, konnten die anderen sie nicht
einmal
in Ruhe lassen? Nicht mal bei dieser wichtigen Entscheidung? Elise atmete durch, dann gab sie Antwort und verließ sogleich das kalte kleine Zimmer, um auf dem Treppenabsatz natürlich geradewegs der Tante in die Arme zu laufen.
«Ist die Idee mit dem Quetschemännchen nicht reizend?», rief die ganz verzückt.
«Mein Gott, Tantchen», seufzte Elise. «Mir geht das alles viel zu schnell. Im Gegenteil, ich finde es ungeschickt von Gehling, mich mit diesem Trick zu einer überstürzten Entscheidung zu drängen. Das weckt eher den Trotz in mir.»
«Na ja», sagte die Tante. «Du musst es ihm nachsehen. Ehrlich gesagt, das mit dem Quetschemännchen war so ein bisselchen meine Idee, ich –»
«Wie? Das war deine Idee?»
«Ja. Ich hatte ihm heute vor dem Essen, als er ging, von der Sit- te erzählt und ob es nicht eine schöne Geste wäre, wenn er dir –»
«Ach nein, das glaub ich nicht!», sagte Elise, die sich vollkommen verraten fühlte. «Wie kannst du dich nur so einmischen und mich in eine solche Lage bringen! Wenn du den Gehling so wunderbar findest, nimm du ihn doch, dann bin ich ihn los!»
«Also wirklich, Elise!», rief die Tante entrüstet. Aber da war ihre Nichte schon an ihr vorbei und die Treppe hinunter. Ganz unten hörte man nur noch die Eingangstür schlagen. Kurz darauf zeigte der Kaufmann Best sein Gesicht in der Diele, sah kauend erst zur Haustür, dann hoch zu seiner Schwester, die noch auf der Treppe stand. «Was hat sie denn jetzt vor?», fragte er, ohne sich besonders sorgenvoll oder überrascht zu zeigen.
«Ich weiß es nicht, Ernst, ich weiß es nicht», sagte die Tante betrübt, während ihr Vogelkopf heftig zitterte.
E lise war zu den Weihnachtsmarktständen am Dom gelaufen. Die lagen am nächsten. Eilig erstand sie ihrerseits eins der raren Quetscheweibchen und hetzte zurück nach Hause. Ganz leise ließ sie sich ein und schlich nach oben, um keine inquisitorischen Fragen von Tante oder Vater beantworten zu müssen. In ihrem Zimmer fand sie zu ihrer Freude ihre Gäste sehr wohlauf vor. Josua saß im Bett, und Marie war dabei, ihn einen einfachen Kartentrick zu lehren.
«Tante Elise, ich hab fast kein Fieber mehr!», rief Josua ihr zu. «Bloß die Füße und die Finger tun immer noch so weh.»
«Der Doktor sagt, das wird auch noch ein Weilchen dauern», sagte Elise. «Aber wir können dich zum Glück schön hier pflegen, sodass du dich ausruhen kannst und die Füße nicht benutzen musst.» Sie strich ihm über die Stirn, überprüfte, ob die schlimmen Füße warm und trocken gebettet waren. Das Feuer brannte fröhlich vor sich hin. So warm hatte es Elise in ihrem Zimmer lange nicht gehabt.
Sie nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben Josua ans Bett. «Ich hab dir noch gar nicht erzählt, dass ich heute Morgen deinen Onkel suchen war, den Herrn Goldfarb», begann sie. Josua sah sie in ängstlicher Erwartung an.
«Er ist umgezogen», berichtete Elise. «Er wohnt jetzt in einem ganz großen Haus direkt am Main. Nur ist er leider im Augenblick nicht da, sagt seine Haushälterin. Er ist zur Kur im Thüringer Wald. Die Haushälterin meint, er wird zurückkommen, sobald das Wetter es erlaubt. Dann werde ich wieder zu ihm gehen. Aber dein Onkel scheint ein wohlhabender Mann zu sein. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird schon alles in Ordnung kommen.»
«Wohnt mein Onkel weit von dir?», fragte Josua.
«Nein, gar nicht. Du kannst mich oft besuchen kommen. Oder ich dich.»
Das sagte Elise so dahin. Und dann fiel ihr ein, dass sie wahrscheinlich bald überhaupt nicht mehr in Frankfurt sein würde, sondern in
Weitere Kostenlose Bücher