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Eiswind - Gladow, S: Eiswind

Titel: Eiswind - Gladow, S: Eiswind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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reagiert, dass Oberstaatsanwalt Tiedemann schließlich nachgegeben hatte.
    Obwohl er sich von ihr mal wieder hatte anweisen lassen, sich für den Sitzungsdienst am frühen Morgen durch einen Kollegen vertreten zu lassen, schenkte sie ihm nicht einmal ein Lächeln.
    Für Sophie schien es selbstverständlich zu sein, dass er rund um die Uhr für sie zur Verfügung stand. Ein Nein war für sie nicht akzeptabel. Er war selten in der Lage, ihr einen Wunsch abzuschlagen, und noch weniger vermochte er es, Verbote auszusprechen. Es lag an der Art, wie sie ihn ansah. Mit jedem ihrer Blicke klagte sie ihn an. Sie machte ihn dafür verantwortlich, nicht wie ein normaler Teenager aufwachsen zu können. Und er fühlte sich schuldig und ließ sie gewähren.
    Sophie streifte umständlich ihre Unterwäsche über, und er stöpselte den Föhn ein. Sosehr sie es auch immer wieder verzweifelt versuchte, sie vermochte es gegenwärtig nicht, ihren rechten Arm hoch genug zu heben, um sich selbst die Haare zu föhnen und sich gleichzeitig mit der linken Hand zu frisieren.
    Vor ein paar Wochen war sie beim Rollstuhlbasketball gestürzt und hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Dass sie ihren rechten Arm deshalb nicht vernünftig
gebrauchen konnte, machte sie noch unselbstständiger und damit noch störrischer als sonst. Sie hasste es, sich von ihrem Vater helfen lassen zu müssen, und ließ ihn das auch spüren. Ansonsten kam sie verblüffend gut mit ihrer Behinderung zurecht und war den Umständen entsprechend selbstständig. Ihr Unfall hatte ihnen beiden jedoch vor Augen geführt, wie sehr sie in solchen Situationen doch auf Hilfe angewiesen war.
    »Du musst sie mehr nach hinten kämmen«, kommentierte Sophie nun seine Bemühungen, ihre lockigen braunen Haare zu trocknen. Ihr Schopf schien so widerborstig wie sie selbst.
    So wie sie ihn in dem rollstuhlgerecht angebrachten Spiegel ansah, glaubte er, dass sie ihn hassen, auf jeden Fall aber zutiefst verachten musste.
    »Alle Teenager hassen ihre Eltern für eine gewisse Zeit«, hatte seine Kollegin Anna Lorenz zu ihm gesagt. »Das ist ganz normal. Machen Sie sich darum keine Sorgen.«
    Er war sich nicht sicher, ob es wirklich normal war. Sicher war allerdings, dass er sich Sorgen machte und sich überfordert fühlte. Die meisten Menschen haben schon genügend Schwierigkeiten damit, einen gesunden Teenager zu erziehen, dachte er. Seine heftig pubertierende Tochter war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er mit ihr umgehen sollte.
    Und offensichtlich war sie in diesen Zivi verliebt oder schwärmte jedenfalls für ihn. Ein Typ, der aussah wie die Kreuzung aus einem Gespenst und einem Igel.
    Der Gedanke, dass sie mit irgendeinem Jungen etwas anfangen könnte, war ihm eine Qual. Immerhin konnte Sophie, anders als andere Teenager, nicht allein durchbrennen. Das beruhigte ihn in gewisser Weise.
    »Aua«, beantwortete sie unwirsch ein winziges Ziepen, das er beim Bürsten verursachte, und riss ihn so aus seinen Gedanken.
    »Entschuldigung«, antwortete er, »aber ich verstehe dieses dauernde Haarewaschen auch nicht.«
    Sophie schnaubte nur verächtlich und starrte weiterhin feindselig in den Spiegel, wobei ihm nicht klar war, ob sie nur ihn oder auch sich selbst nicht leiden konnte.
    Sie war kein hässliches Mädchen. Woher auch? Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war frappierend. Beate war eine schöne Frau gewesen. Obwohl sie noch lebte, verbot er sich, von ihr in der Gegenwart zu sprechen. Sie war Vergangenheit und für ihn gestorben – daran glaubte auch Sophie.
    Beate hatte sie verlassen, als Sophie vier Jahre alt war. Sie hatte sich wie ein Verbrecher aus der Verantwortung gestohlen. Schlimmer als all jene, die ich im Alltag verfolge, dachte er voller Bitterkeit.
    Erpresser, Räuber, Mörder und Diebe. Sie alle hatten ein nachvollziehbares Motiv. Meist ging es um Habgier, Rachsucht oder Hass. Es gab irgendetwas, was ihr Verhalten plausibel machte.
    Beate hatte keines. Es konnte für eine Mutter keinen Grund dafür geben, ihr behindertes Kind zu verlassen. Und vor allem gab es keine Strafe für das, was sie ihnen
angetan hatte. Und das war das Schlimmste von allem. Die Strafgewalt, für die er eintrat, kannte für dieses Verbrechen – und er hielt es für ein Verbrechen, seine Familie im Stich zu lassen – keine Sanktion.
    Sie hatte sich bei Nacht und Nebel davongestohlen. Ihn und das Kind sitzen lassen. War einfach abgehauen und mit irgendeinem

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