Eiszeit
geschossen wurde. Und wenn ich nicht innerhalb der nächsten Stunde mit ihm gesprochen habe, trommle ich jeden Mann zusammen, der laufen kann, und lasse nach ihm suchen. Als Tatverdächtigem, wohlgemerkt. Ob ihm das dann gefallen wird, stelle ich mal infrage. Also, wo steckt der Kerl?«
Winterschied hatte seine coole Attitüde schlagartig verloren und trippelte unsicher von einem Bein aufs andere.
»Das kann ich nicht machen, Herr Kommissar. Ich hab ihm versprochen, dass ich Ihnen nur ausrichte, dass er nichts zu sagen hat und nicht mit Ihnen sprechen will.«
Lenz rührte sich nicht. Winterschied warf einen flehenden Blick in Hains Richtung, doch der Oberkommissar zuckte nur gelangweilt mit den Schultern.
»Also gut. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie geben mir Ihr Mobiltelefon mit und eine Nummer, unter der ich Sie erreichen kann. Wenn ich ihn gefunden habe, versuche ich, ihn davon zu überzeugen, sich mit Ihnen zu unterhalten. Aber versprechen kann ich Ihnen gar nichts.«
Der Hauptkommissar verzog noch immer keine Miene.
»Sie haben eine Stunde. Wenn ich bis dahin nichts von Ihnen gehört habe, greift Plan B.« Er wandte sich zu Hain. »Gib ihm dein Telefon, Thilo.«
Hain sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte dabei entgeistert den Kopf. »Ich glaub, du spinnst! Das Ding hab ich mir erst vor drei Wochen gekauft. Wer garantiert mir denn, dass ich es jemals wiedersehe ?«
»Ich«, mischte Winterschied sich ein. »Ich garantiere Ihnen, dass Sie Ihr schönes Telefon zurückbekommen, weil ich mir aus diesem Schnickschnack rein gar nichts mache. Außerdem kenne ich niemanden, den ich anrufen könnte. Also, her mit dem Ding, meine Zeit läuft.«
Der Oberkommissar griff zögernd in die Jacke, zog das Gerät heraus, tippte auf ein paar Tasten und hielt es dem Mann hin. »Wenn Sie jetzt zweimal die grüne Taste drücken, meldet sich mein Kollege. Und spätestens heute Abend will ich wieder damit telefonieren, ja?«
Winterschied schnappte danach und steckte das Telefon in seine Hosentasche.
»Schon klar, Herr Kommissar. Wir hören voneinander.«
12
Lapperts Kopf pochte. Sein Atem ging hektisch und immer wieder hatte er Angst, ohnmächtig zu werden und dabei seine Position zu verändern. Um mehr als fünf Grad.
Nachdem von seinen Entführern nichts mehr zu hören gewesen war, hatte er versucht, die Sekunden zu zählen. 15 Minuten mal 60 Sekunden, das machte 900 Sekunden. Bei 300 angekommen, fragte er sich zum ersten Mal, ob er nicht viel zu schnell zählte. 400. In diesem Moment knackte hinter ihm ein Ast und schreckte ihn auf. Instinktiv wollte er sich die Augenbinde herunterreißen, doch noch, bevor er den Arm bewegt hatte, fielen ihm die fünf Grad ein. Nein, die Arme nach oben, zum Kopf zu nehmen, wäre sicher eine zu ausladende Bewegung.
»Hallo!«, rief er laut. »Hallo, ist da jemand? Bitte sagen Sie etwas, wenn Sie mich sehen oder hören können.«
Bis auf das Konzert der Vögel um ihn herum drang kein Laut an sein Ohr. Jedoch kam schlagartig die Angst wieder in ihm hoch, seine Entführer könnten es sich anders überlegt haben und würden zurückkehren. Er konzentrierte sich, doch es blieb beim Zwitschern der Vögel. Trotzdem lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Wie lange noch?, fragte er sich. In seiner Panik hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Waren fünf Minuten vergangen? Zehn?
Wieder lauschte er. Nichts. Nur das Rauschen in seinem Kopf wurde lauter. Und er bemerkte, dass seine Beine taub wurden. Seine verkrampfte Haltung führte dazu, dass das Blut nicht ausreichend zirkulieren konnte. Vorsichtig brachte er zuerst das linke, dann das rechte Bein in eine bequemere Position, immer darauf bedacht, keine Pendelbewegung im Oberkörper auszulösen. Nun konnte er spüren, wie das Blut zurückkehrte. Und, dass es ein wohliges Kribbeln auslöste. Behutsam fasste er mit beiden Händen an seine Oberschenkel und knetete leicht die Muskeln, stoppte jedoch, als seine Beine anfingen zu zittern. Zuerst kaum spürbar, verstärkten sich die Bewegungen mehr und mehr. Das Kribbeln wich dem Gefühl, als würde Strom durch seine Unterschenkel geleitet, das Zittern wurde stärker. Er legte die Hände auf seine Oberschenkel, drückte, strich beruhigend darüber, doch die Bewegungen waren unkontrollierbar und verstärkten sich mit einer Eigendynamik, die ihn aufschreien ließ. Dann hörte er in seinem Rücken ein Piepen. Kurz, leise, aber deutlich vernehmbar. Schlagartig wurden seine Beine
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