Eiszeit
ruhig, sein Oberkörper entspannte sich und er musste schlucken.
War das Geräusch, das er gehört hatte, das, worauf er wartete? Tränen schossen ihm in die Augen, und als er an seinen Kopf griff, um die Augenbinde wegzuziehen, war es ihm völlig gleichgültig, ob der Sprengsatz in seinem Rücken explodieren würde. Der Tod erschien ihm leichter zu ertragen als das, was er bis hierhin durchgemacht hatte. Die Helligkeit blendete seine feuchten Augen, doch er ließ sie geöffnet und sah sich blinzelnd um. Laubwald. Hellgrüner, wohlriechender Laubwald, durchzogen von dem einen oder anderen Blick zum blauen Himmel.
Die Augenbinde entpuppte sich als anthrazitfarbener Kaschmirschal, den er achtlos auf den Waldboden vor seinen Füßen fallen ließ. Dann schaute er an sich herunter, öffnete den Verschluss des Gurtes, der die beiden Träger des Rucksacks vor seiner Brust miteinander verband, streifte ihn ab, stand zitternd auf und fing an zu schluchzen.
*
Als er sich ein paar Minuten später so weit unter Kontrolle hatte, dass er wieder etwas klarer denken konnte, griff er vorsichtig nach dem dunkelblauen Bündel auf dem Baumstumpf, nahm es vorsichtig hoch, öffnete den Reißverschluss und sah hinein. Der einzige Gegenstand, der sich im Rucksack befand, war ein Funkwecker. Und ein kleiner bedruckter Zettel. Er nahm beides heraus, stellte den kleinen Wecker neben sich ab, faltete das Papier auseinander und las.
›Dies ist der einzige Scherz, den wir uns mit Ihnen erlauben. Denken Sie bitte an unsere Abmachung!‹
Der Architekt ließ die Notiz mit geschlossenen Augen aus der Hand gleiten, fiel auf die Knie und übergab sich.
Ohne sich noch einmal um die Utensilien, die auf und um den Baumstumpf verstreut lagen, zu kümmern, ging er ein paar Minuten später auf dem schmalen Waldweg in die gleiche Richtung, die sein Begleiter nach seiner Wahrnehmung eingeschlagen haben musste. Über eine Kuppe führte der Weg direkt zu einer Lichtung, auf der sein Wagen stand.
*
»Heinrich?«, rief seine Frau aus der Küche, als er die Tür des Hauses aufschloss. »Wo bleibst du denn, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Dein Telefon ist ausgeschaltet.«
Er stellte seine Tasche in den Flur, ging ins Wohnzimmer und goss sich ein großes Glas halb voll mit Cognac.
»Sprichst du nicht mehr mit mir?«, hörte er sie vom Flur her fragen. »So kenne ich dich …«
Sie verstummte, als sie ihren Mann mit dem Glas in der Hand vor dem Sideboard stehen sah.
»Mein Gott, Heinrich, was ist denn passiert?«
Der Architekt leerte das Glas und stellte es ab. »Nichts. Mach dir keine Sorgen, ich hatte einen kleinen Unfall. Aber es ist nicht so schlimm, wie es ausschaut.«
Veronika Lappert hielt mit der Rechten ihren Mund umklammert und ging langsam auf ihren Mann zu.
»Du siehst ja furchtbar aus. Wir müssen einen Arzt rufen.«
»Nein, keinen Arzt!« Er hatte auf der Fahrt nach Hause im Rückspiegel des Mercedes sein Gesicht begutachtet und war ebenso erschrocken darüber gewesen wie seine Frau jetzt. Der Schlag auf den Kopf hatte neben einer bösen Schwellung eine hässliche, blutende Wunde verursacht. Das Blut hatte sich in seinen Haaren und im Gesicht verteilt. Nur die Stelle, an der die Augenbinde gesessen hatte, war sauber geblieben.
»Du säuberst die Wunde, dann machen wir einen Verband drauf. So schlimm, dass ich einen Arzt bräuchte, ist es wirklich nicht.«
Sie trat näher an ihn heran und betrachtete sein Gesicht und seinen Hinterkopf.
»Was redest du da, Heinrich. Das muss genäht werden, das ist eine klaffende, offene Wunde.«
Er winkte energisch ab. »Lass mir bitte ein Bad ein, Veronika. Ich muss den Kopf nicht genäht bekommen, ich muss ihn einfach nur freikriegen. Dann erzähle ich dir alles.«
Mit einer unbeholfenen Bewegung schälte er sich aus seinem blutbeschmierten Jackett, warf es zu Boden und stieg aus den Schuhen. Alles war dreckig und er hatte das Gefühl zu stinken.
*
»Du weißt genauso gut wie ich, wer hinter dieser feigen Attacke steckt.« Veronika Lappert saß auf dem Klodeckel und schaute ihrem Mann ebenso besorgt wie wütend dabei zu, wie er sich das Gesicht schrubbte.
»Reich mir bitte mal das Handtuch. Und hör auf mit deinen Verdächtigungen.«
Er trocknete sein Gesicht ab und ließ sich langsam und vorsichtig mit dem Hinterkopf ins Wasser gleiten. Als die Wunde benetzt wurde, stöhnte er leise auf. Dann kam er mit geschlossenen Augen wieder hoch.
»Jetzt bist du dran.
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