Eiszeit
gelogen.
»Aber jetzt müssen wir sehen, wie wir dich aus der Schusslinie kriegen. Warum bist du nicht längst abgehauen?« Der Russe griff sich in die Hose, zog den Umschlag heraus, den der Italiener ihm zugeworfen hatte, und warf ihn auf den abgegriffenen Tisch. »Hier. Das Grund.«
Der Zeitungsverkäufer nahm das Papier hoch, betrachtete das braune Papier und zuckte mit den Schultern.
»Was ist das?«
»Weiß nichts. Hat tote Italiener gegeben zu mir.«
»Ich werd wahnsinnig. Du hast mit dem Italiener gesprochen, bevor er ermordet worden ist?«
»Nix sprechen. Kam aus Haus, hat geworfen. Nix wissen.«
»Wie? Dann hat der Italiener gar nicht mitgekriegt, dass du da warst? Du hast das Zeug zufällig in die Hände gekriegt?«
»Da«, machte der Russe. »Ich zufällig.«
Winterschied riss den Umschlag auf, stellte ihn auf den Kopf, fing mit der Hand den Inhalt auf und legte alles auf den Tisch. »Jetzt hol ich dir erst mal dein Wasser. Und ich brauche was mit Geschmack, so viel ist sicher.«
*
»Weißt du, was das ist?«, fragte Winterschied den Russen, nachdem er die Papiere kurz durchgesehen hatte. Sjomin schüttelte den Kopf.
»Ich auch noch nicht. Aber irgendwie glaube ich, dass man damit was anfangen könnte, wenn man es denn verstehen würde.« Er drehte ein paar Blätter um, betrachtete die Rückseiten, und sein Gesicht hellte sich auf.
»Das hier sind Kontoauszüge«, gab der Mann, der in besseren Zeiten sein Geld als Fernfahrer verdient hatte, dem Russen zu verstehen. »Kennst du das?«
Nun nickte der Mann aus Sibirien. »Ich kenne.«
»Hier geht es um richtig viel Geld, Waldemar. Um Millionen von Euro.« Er blätterte ein paar andere Papiere durch. »Und hier, das sind Verträge. Also, Kopien davon.« Dann zuckte er zusammen, schluckte, und deutete auf ein Blatt.
»Den Namen hier, kennst du den?«
Sjomin beugte sich nach vorne und versuchte, etwas zu erkennen, was ihm nicht leichtfiel , weil seine Augen in den letzten Jahren schlechter geworden waren.
»Nix kennen.«
»Und das hat der Italiener dir zugeworfen. Einfach so?«
»Werfen, da«, bestätigte sein Besucher. »Aber nix wissen, dass ich da.«
»Ja, das hab ich verstanden. Was ich nicht verstehe, ist, wie er an das Zeug hier gekommen ist.«
Sjomin zuckte mit den Schultern, weil er den Inhalt von Winterschieds Worten nicht verstanden hatte.
»Was willst du damit machen, Waldemar?«
»Du behalten. Geben den Mann, der geschossen auf mich.«
Winterschied lachte laut auf. »Na, du bist lustig. Soll ich mich vielleicht auf die Königsstraße stellen und laut nach den Jungs rufen, die auf dich geballert haben und den Italienern das Licht ausgeblasen haben?«
»Nix verstehen.«
»Mensch, Waldemar, das ist nicht so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst. Problema «, fügte er laut hinzu.
»Da, Problema . Ich nix wollen Papier. Geben zurück.«
Der Zeitungsverkäufer überlegte. »Das ist wahrscheinlich die beste Idee. Aber die Jungs, die die Itaker und den Mann aus Tirol kaltgemacht haben, verstehen keinen Spaß, so viel ist klar. Und ich habe keine Ahnung, wie ich an sie rankommen soll. Außerdem denken die vielleicht, ich hätte mir Kopien der Unterlagen gemacht, und dann lande ich am Ende auch noch auf deren Abschussliste.«
Er packte die Papiere zurück in den Umschlag und steckte ihn hinter eines der Kissen des alten Cordsofas aus den Siebzigern.
»Ich kümmere mich darum, Waldemar. Aber für dich ist der Boden trotzdem hier ganz schön heiß. Was machst du denn jetzt?«
»Gehen weg. Rossija . Ukrajina . Weiß nix. Nix mehr Deutschland. Deutschland scheiße.«
»Das ist doch mal ’ne richtig gute Idee«, erwiderte Winterschied , griff in seine Tasche, zog eine dünne Rolle Geldscheine heraus und zählte dem Russen 65 Euro in die Hand. »Mehr kann ich dir nicht geben, Kumpel. Aber ich bin sicher, das hilft dir schon ein gutes Stück weiter. Alles klar?«
Sjomin nickte, steckte das Geld in seine Hosentasche und stand auf.
»Ich weg. Wiedersehen.«
Ohne ein weiteres Wort oder einen Dank verließ er die Wohnung.
»Viel Glück, alter Russe!«, rief Winterschied ihm hinterher, doch da war der Mann aus Sibirien längst verschwunden.
26
Etwa zur gleichen Zeit setzte die Boeing 747 der Singapore Airlines auf dem Frankfurter Flughafen auf. Jochen Mälzer hatte bis zuletzt geschlafen und war erst 15 Minuten vor dem Aufsetzen der Maschine von der Stewardess geweckt worden, so, wie er es gewünscht hatte. Nachdem
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