Eiszeit in Bozen
Talfer zu werfen, bei der Sie davon ausgehen
können, dass es Tage dauert, bis die Leiche gefunden wird. Kommt Ihnen das
nicht bekannt vor?«
Es dauerte einen Moment, bis der sanftmütige Marzoli antworten
konnte. Bei Bellinis anschaulicher Beschreibung war ihm speiübel geworden.
Vincenzo registrierte voll Mitgefühl, wie alle Farbe aus dem Gesicht seines
Kollegen wich, ahnte aber, dass er selbst nicht anders aussah. »Sie … Sie
denken an … an …?«
Vincenzo nickte. Vor gut einem Jahr hatten sie es mit einem
Serienmörder zu tun gehabt, dessen Skrupellosigkeit und Brutalität alles
überstieg, was sie bisher erlebt hatten. Als »Das Monster von Bozen« hatte er
für wochenlange Schlagzeilen gesorgt. »Das würde zu ihm passen, Commissario,
aber er sitzt seit seiner Verhaftung in der Geschlossenen. Wäre er geflohen,
wüssten wir es längst.«
»Sie haben recht. Wir sollten ihm trotzdem einen Besuch abstatten.«
Vincenzos Blick erfasste Sabine Mauracher. Sie stand in lässiger
Haltung vor dem Operationstisch, kaute Kaugummi, blickte fasziniert auf die
Leiche. Sie schien damit überhaupt kein Problem zu haben. »Sabine, wollen Sie
cool wirken oder macht Ihnen das wirklich nichts aus?« Vincenzo konnte sich
partout nicht vorstellen, dass ein junger Mensch, ein Mädchen, bei einem
solchen Anblick so ungerührt bleiben konnte.
»Nein, was soll mir das ausmachen? Leichen werden mir in meiner
Berufslaufbahn noch häufiger begegnen. Es wäre ziemlich blöd, wenn ich gleich
kotzen müsste, oder?«
Vincenzo blickte sie entgeistert an. Sie konterte mit einem Lächeln.
Er wandte sich an Paci: »Hat er andere Verletzungen? Gibt es
Anzeichen für einen Kampf?«
Die Pathologin schüttelte den Kopf, wobei ihre Locken in alle
Richtungen gleichzeitig wirbelten. »Nein, das Opfer dürfte seinen Mörder
gekannt haben oder hatte zumindest keinen Grund, ihm zu misstrauen. Es gibt
keinerlei Abwehr- oder Verteidigungsspuren. Das muss alles ganz schnell
gegangen sein. Denkbar wäre ein Überfall aus dem Hinterhalt, aber selbst dann
stelle ich es mir schwierig vor, jemandem das Genick zu brechen, ohne dass das
Opfer versucht, sich zu wehren. Wie gesagt, da gehört eine große Portion Kraft
und Kaltblütigkeit dazu. Und man muss wissen, wie man zupacken muss.«
Sie hielt einen Moment inne, um einige ihrer Locken hinter das
rechte Ohr zu legen. Allein die kurze Kopfbewegung, als sie ansetzte, um
weiterzuerzählen, genügte, um die Strähnen wieder in ihre Ausgangsposition
zurückfallen zu lassen. »Mir ist noch etwas Merkwürdiges aufgefallen. Das Opfer
trug um seinen rechten Fuß eine Halskette – für Damen, wohlgemerkt. Der
Anhänger besteht aus zwei Initialen. Erstens ist das ungewöhnlich für einen
Mann. Zweitens, warum sollte der Mörder ihn entkleiden und entstellen, um zu
verhindern, dass er schnell identifiziert wird, aber eine Kette nicht abnehmen,
die eindeutige Hinweise auf die Identität des Toten liefern kann?«
Vincenzo war verblüfft. Alles Mögliche hatte er erwartet, nachdem
Mauracher das Ding am Fuß des Toten entdeckt hatte, aber eine Damenhalskette
nicht. Er griff nach dem Beweismittelbeutel, in dem sich das Schmuckstück
befand, und betrachtete es. Sein Blick erfasste die Initialen, aber es dauerte
einige Sekunden, bis er begriff.
Schweiß brach ihm aus, er begann zu zittern. Sein flacher Puls
schlug schnell. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
Paci sah ihn erschrocken an. »Was ist denn mit Ihnen los,
Commissario? Geht es Ihnen nicht gut?«
Marzoli fasste seinen Kollegen am Arm und schüttelte ihn.
»Commissario! Ist Ihnen schlecht? Sagen Sie doch was!«
Vincenzo hörte die beiden kaum, er war wie in einer anderen Welt.
Mit offenem Mund starrte er von Marzoli zu Paci, dann wieder auf das Ding in
seiner Hand. Es handelte sich um eine feingliedrige Silberkette mit einem
silbernen Anhänger, der aus zwei Initialen bestand. Die erste, ein großes G,
war mit einem kleinen Silberring an der Kette befestigt. Die zweite war
gegenüber dem G schräg nach unten versetzt und mit ihm an dessen rechter
Seite verbunden. Es war ein großes V.
Achte auf meine Zeichen!
Vincenzo wurde schwindelig, er ließ den Beutel auf den Bauch des
Leichnams fallen und sackte, das Gesicht in den Händen vergraben, zu Boden.
Paci trat zu ihm, fühlte ihm den Puls. Beruhigt stellte sie fest,
dass es sich nicht um einen bedrohlichen Schock handelte. »Ispettore, würden
Sie Signor Bellini bitte ein Glas Wasser holen?
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