Ekel / Leichensache Kollbeck
nur für kurze Zeit. Als nämlich die Kreiskirchenleitung im Dezember 1975 den Beschluß faßt, Ende des Sommers 1976 eine Visitation in seinem Pfarrsprengel durchzuführen, ist Brüsewitz außer sich. Da er selbst einmal in einer Visitationskommission mitwirkte und ihre Tätigkeit für den betreffenden Pfarrer als entehrend empfunden hatte, reagiert er in höchstem Maße unsachlich, in dem er die geplante Maßnahme als Schnüffelei ansieht und die Kommission mit der Staatssicherheit gleichstellt. Er fühlt sich in arger Bedrängnis, ahnt, die prekäre Situation in seinem Sprengel, der erhebliche Verlust an Gemeindemitgliedern werde nun gänzlich offengelegt. Zusätzlich belastet ihn der Vorwurf der Kirchenleitung, den Dienstwagen durch unsachgemäßen Gebrauch ramponiert und dadurch unverhältnismäßig hohe Reparaturkosten verursacht zu haben.
Auf Drängen des Rates des Bezirkes Halle, die für den Staat als untragbar empfundene Situation bald zu klären, entschließt sich die Kirchenleitung, Brüsewitz einen Pfarrstellenwechsel vorzuschlagen und ihm damit die Möglichkeit eines Neubeginns zu geben. Doch er verhält sich widersprüchlich: Während er sich einerseits zu einem Wechsel bereit zeigt, verbreitet er andererseits in der Gemeinde, Rippicha bis zu seinem Tode nicht zu verlassen.
Die Zersplitterung seiner Seele läßt sich erahnen: Brüsewitz’ gewohnte innere Widerstandsfähigkeit scheint aufgebraucht zu sein. Auch sein Körper zeigt Anzeichen von Schwäche. Herzprobleme und chronisches Magenleiden haben ihn längst anfällig und labil gemacht. Er fühlt, wie er sich der lawinenartig auf ihn hernieder stürzenden Probleme nun nicht mehr erwehren kann. Sie treiben ihn unaufhaltsam in das Labyrinth der Ausweglosigkeit. Das alles geschieht auf dem Fundament seiner Persönlichkeit, die von hohem Anspruchsniveau seiner missionarischen Tätigkeit, von tiefem christlichen Glauben ebenso geprägt ist wie von Kompromißunfähigkeit, Renitenz, Sturheit, Spontaneität und Affektivität – Eigenschaften, die ihn zeitlebens schon unberechenbar machen. Das ständige Wechselbad aus Erfolg und Mißerfolg, Aktion und Gegenwirkung, Kampfgeist und Resignation, Selbstbewußtsein und Selbstzweifel belastet sein Innenleben.
So entsteht ein ganzes Bündel von Einzelmotiven. Brüsewitz’ Gedankenwelt richtet sich immer stärker auf einen Punkt aus: Suizid wird als letzter Ausweg erwogen. Diese Überlegungen werden bei ihm zur bestimmenden Triebkaft. Niemand weiß, wann er den Handlungsentschluß faßt, mit dem Pkw nach Zeitz fahren zu wollen, um sich dort öffentlich zu verbrennen. Aber der für die Vorbereitung erforderliche Zeitaufwand zeugt von Überlegung und Planmäßigkeit des Vorgangs.
Oskar Brüsewitz verknüpft die geplante Selbstvernichtung mit verschiedenen Intentionen: Sie soll zur Befreiung aus der psychischen Sackgasse angehäufter Konflikte und zermürbender Konfrontationen führen. Aber er verbindet mit der Selbsttötung auch den politischen Protest: Die Selbstopferung bildet so den Höhepunkt seines Kampfes gegen das politische System in der DDR und drückt absolute Entschlossenheit aus. Sie ist auf spezifische Weise politischer Widerstand. Gleichzeitig ist sie ein nachdrücklicher Appell zur Abkehr von der „praktischen Gottlosigkeit“.
Derlei Zweckbestimmung entspricht durchaus seiner religiösen und politischen Überzeugung, die er einmal auf einer Grabrede zusammenfaßte: „Alles ist vergänglich, auch der Marxismus, und nur der liebe Gott bleibt bestehen.“
Zusätzlich erzeugt die Situation in der Kirche, so wie Brüsewitz sie reflektiert, ebenso tiefe Enttäuschung, Mutlosigkeit und Resignation wie die seelsorgerischen Mißerfolge in der Gemeinde. Und schließlich wirkt die angekündigte Visitation der Kirchenleitung subjektiv wie eine existentielle Bedrohung, deren Resultat Ohnmacht und Ausweglosgkeit sind.
Der Tod selbst ist für Brüsewitz kein Thema, das ihn abschrecken könnte. Im Gegenteil: Er fühlt eine innere Berufung zu diesem letzten Schritt, den er mit der Zuversicht eines frommen Menschen gehen will.
In seinem Abschiedsbrief formuliert er dies so: „… Um so mehr freue ich mich, daß mein Herr und König und General mich zu den geliebten Zeugen berufen hat …“
Am 18. August 1976, einen Monat vor der angekündigten Visitation, übergießt sich Pfarrer Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz mit Benzin und zündet sich an. Sein Tod ist Flucht, politischer Appell und
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