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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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ausschütten, trifft Erwins Selbstwertgefühl schwer. Er, der bislang immer nur der Sieger, war, muß nun eine schändliche Niederlage einstecken. Hilflos und innerlich starr läßt er die hochpeinliche Prozedur über sich ergehen, fühlt sich ihr ausgeliefert und unterlegen. Erstmals in seinem Leben sieht er sich einer geschlossenen Phalanx von Gegnern gegenüber.
    Mit scharfen Worten verurteilt die FDJ-Leitung sein politischideologisches und unmoralisches Verhalten und empfiehlt ihm, das Studium zu unterbrechen, um sich zwei Jahre lang in der sozialistischen Produktion bewähren zu können. Spätestens bis zum Jahresbeginn 1968 soll er seinen Platz im Hörsaal gegen einen Platz als Hilfsarbeiter in der Lagerhalle eines der Industriewerke am Rande Dresdens eintauschen. Und die streng dreinblickenden Jungfunktionäre entlassen ihn erst, nachdem er sich reumütig zu seinem Vergehen bekannt und die Empfehlung – die eigentlich wie ein Befehl klingt – als kameradschaftliche Handreichung ausreichend gewürdigt hat. Freilich: Es ist ein reines Lippenbekenntnis. Ehrliche Einsicht ist ihm fremd. Doch die Schmach über sein angeschlagenes Image hat sein Selbstbild dauerhaft beschädigt.
    Tagelang grübelt er darüber nach, welche Konsequenzen sich für ihn ergeben, wenn er ab Jahresbeginn im stupiden Schichtdienst Hilfsarbeiten verrichten wird: Er müßte sein Bett im Studentenheim räumen und sich ein Zimmer in Dresden suchen. Er könnte dann auch nicht mehr so häufig nach Eisenach fahren. Jedoch: Nicht seiner Frau und des Kindes wegen würde er das bedauern. Vielmehr befürchtet er, dadurch Marlene zu verlieren, deren endgültige Eroberung ihn immer noch in Anspruch nimmt.
    Erwins Wesen hat sich durch die vergangenen Ereignisse stark verändert. Die bisherige Selbstgefälligkeit ist einer sich schleichend vergrößernden Verstimmung gewichen. Die Maßregelungen durch die FDJ-Leitung empfindet er als schwere Kränkung und Beschämung. Sie haben ihn innerlich so niedergeschmettert, daß er sich in Selbstmitleid ergeht. Unmerklich verändert sich sein Empfinden in das eines Neurotikers, der überall Gefahren für sich wittert. Deshalb fühlt er sich an der Universität bald nicht mehr wohl. Ihm scheint, als würde man hinter seinem Rücken über ihn tuscheln, sich über ihn belustigen. Ob in der Mensa, im Wohnheim oder im Hörsaal, überall fühlt er sich von neugierigen, hämisch grinsenden Blicken verfolgt. Ständig wittert er Anspielungen auf die erlittene Niederlage.
    Das nächste Wochenende verbringt er in Eisenach. Es erwarten ihn süße, heimliche Stunden mit Marlene. Er fragt Renate, ob sie mit einer Scheidung einverstanden wäre. Die hält dieses Ansinnen für eine seiner Launen, hofft indes, daß sie die Risse in ihrer Ehe gemeinsam kitten können und erinnert ihn an seine Vaterpflichten. Kurzum: Sie willigt nicht ein. Unverfroren gesteht er Renate, schon lange ein Liebesverhältnis zu einer anderen Frau zu unterhalten, die er sogar zu ehelichen gedenke. Renate ist bestürzt. Doch sie bleibt standhaft bei ihrem Nein. Das bringt Erwin in Rage. Wutschnaubend eilt er ins Schlafzimmer, hebt sein kleines Töchterchen aus dem Kinderbett, hält dem ahnungslosen Kind ein Küchenmesser an die Kehle und schreit Renate an: „Laß dich scheiden! Oder ich steche dein Kind ab!“
    Entsetzt blickt Renate in seine kalten Augen und weiß, daß es ihm ernst ist. Angstvoll gibt sie ihren Widerstand auf und beschwört ihn: „Tu meinem Kind nichts an, lieber laß ich mich scheiden!“
    Seine Wut klingt ab: Renate hat klein beigegeben, die Herrschaft über sie ist wiedererlangt. Erwin legt den Säugling zurück ins Bettchen. Doch ehe er die Wohnung verläßt, um sich mit Marlene zu treffen, droht er Renate nochmals: „Gnade dir Gott, wenn du nicht dabei bleibst! – Ich bringe den Balg um!“
    Erwin findet keine innere Ruhe mehr. Die Vorstellungen, die er sich bislang vom Leben machte, stürzen wie ein Kartenhaus über ihm zusammen: Das Studium futsch, die Ehe ein Chaos, bald wird er in einer Fabrik malochen müssen. Seine einzige Hoffnung setzt er nun auf Marlene. Doch die fühlt sich ziemlich bedrängt, als er sie fragt, ob sie ihn heiraten wolle. Schroff weist sie ihn zurück: „Mensch, ich bin siebzehn, mache gerade das Abitur! Außerdem kläre erst einmal deine eigenen Familienverhältnisse!“
    Erwin Schaper sieht in eine ungewisse, fast düstere Zukunft. Und je mehr er in den kommenden Tagen darüber nachdenkt, um so

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