El Silbador
Unter hundert gibt es einen, der einen solchen Schlag überlebt. Er behält dann ein steifes Genick und wird freigelassen. Das ist eine schöne Sitte, nicht wahr?« Michel verzog das Gesicht. Es überlief ihn kalt. »Eine sehr schöne Sitte«, erwiderte er. »Und dieser Gefahr wollt Ihr Euch aussetzen?«
»Pah. Ihr wißt nicht, was man als Sklavin hier alles erlebt. Wißt nicht, was es heißt, Tag für Tag für den hohen Herrn zu tanzen, bis man zusammenbricht, bis man, an allen Gliedern zitternd, schweißgebadet hinausgetragen wird! Bis jetzt ist meine Sklaverei mit Tanzen abgegangen. Aber was meint Ihr, wie es aussieht, wenn des Paschas weitere Begierden erst erwachen? Wenn ihm seine eingeborenen Frauen nicht mehr zusagen? Dann schon lieber tot oder ein steifes Genick.« »Ihr seid sehr tapfer.«
»Well, ich bin die Tochter des britischen Generals Lord Robert Hawbury.« »Ah«, sagte Michel, »daher.«
Sie hatten eine Flucht von acht Sälen durchquert und standen jetzt vor den Privatgemächern des Fürsten. Hier schien es angebracht, sich möglichst nur noch durch Zeichen zu verständigen.
Trotzdem fragte Michel flüsternd.
»Wißt Ihr, wo mein Gewehr ist, Miß Hawbury?«
»Nein! Könnt Ihr nicht darauf verzichten?«
Michel schüttelte entschieden den Kopf.
»Die Waffe ist in der Hand dieser Araber ein furchtbares Instrument, ein sechsschüssiges Repetiergewehr, allerneueste Erfindung. Könnt Ihr Euch vorstellen, was das heißt?«
»Well, diese Araber sind keine sehr großen Schußwaffenkonstrukteure.«
»Dennoch, ich kann es nicht in den Händen des Daj lassen. Ein Versprechen bindet mich. Ich muß wenigstens versuchen, es wiederzubekommen.«
Sie zuckte resigniert die Achseln.
»Ich will Euch nicht daran hindern. Außerdem, glaube ich, würde eine solche Waffe meinen Vater und die britische Armee interessieren. Durchsucht die Zimmer des Daj. Ich will hier wachen. Aber beeilt Euch!«
Michel öffnete vorsichtig die Tür und trat ein. Er bewunderte das tapfere Mädchen, obwohl er ihr Verhalten und ihre Gedankengänge sehr unweiblich fand. Wie konnte eine Frau an die Nützlichkeit einer neuen Waffe für die britische Armee denken, wenn sie sich in einer so heiklen Lage befand? Nicht eine Spur von Angst hatte er in ihrem Benehmen festgestellt. Ihre Sicherheit war irgendwie unnatürlich.
Er erfaßte mit einem Blick den schier märchenhaften Luxus dieser Wohnräume. Unübersehbare
Kostbarkeiten waren hier angehäuft. Wo aber befand sich die Muskete?
Hastig schritt er auf das Portal der gegenüberliegenden Wand zu. Er öffnete. Hier war die Ausstattung noch prächtiger und gleißender.Fast wäre ihm ein Jubelruf entfahren. Über einer Ottomane hingen in malerischer Anordnung viele Waffen. Auf zwei vergoldeten, mit Arabesken verzierten Armen, die aus der Wand herausragten, lag das Gewehr.
Ein Griff, und Michel hatte es über der Schulter.
Eilig ging er zurück. Eine eiskalte Hand griff plötzlich nach seinem Herzen. Von der Tür her, wo Isolde Wache hielt, erklang ein unterdrückter Aufschrei, Poltern, wie von einem Handgemenge, Stöhnen.
»Gott beschütze mich«, kreischte eine Stimme.
Mit zwei Sätzen erreichte Michel die Tür und riß sie auf. Ein herkulisch gebauter Schwarzer, wahrscheinlich ein Eunuche, war dabei, sich des Mädchens zu bemächtigen, das er trotz seiner Verkleidung erkannt haben mußte.
Michel sprang den Mohren von hinten an und preßte ihm seine Finger um die Gurgel, aber der Kerl hatte Nackenmuskeln wie ein Stier. Wie eine lästige Fliege schüttelte er den unerwarteten Gegner ab.
Michel flog mehrere Schritte durch den Raum.
Schnell raffte er sich auf, packte sein Gewehr am Lauf und stürzte sich mit geschwungenem Kolben auf den Schwarzen. Zwei Schläge, und der Bursche verlor das Bewußtsein. Isolde hatte sich schon wieder gefaßt.
»Wir können ihn hier nicht liegen lassen. Er ist Haremswächter. Deshalb kannte er mich. Sobald er zu sich kommt, wird er Lärm schlagen.«
Michel bückte sich rasch, riß dem Ohnmächtigen die Schärpe vom Bauch, band ihm die Hände und Füße zusammen, stopfte ihm einen Knebel zwischen die Zähne, öffnete die Tür zu dem Gemach, das er soeben verlassen hatte, zog den Bewußtlosen hinter sich her, drückte ihn unter einen Diwan und band ihn mit dem Rest der Schärpe an einem Mauervorsprung fest. Losmachen konnte er sich ohne fremde Hilfe nicht, und bis ihn in den Privatgemächern des Daj jemand fand, konnten Tage vergehen.
Nach ein paar
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